Ich betrete meine Kehle, und du bist auch da
Der erste Text, Heike Dukens „Rabenkinder“, ist gleich ein vielschichtiges Erlebnis; der Romanauszug kann sowohl sprachlich als auch inhaltlich überzeugen. Die vielen Zeitsprünge, in Kapitelüberschriften angedeutet, erschließen sich mir allerdings noch nicht ganz.
das ist nah und
ist weit, ist space,
eine fuge so unter
den fingern zu fühlen, […]
ein junger mond hinter milchglas
rudert zu mir, ich befahre den
takt von kachelquadraten
Sie haben etwas Entzückendes, die Gedichte von Beate Meierfrankenfeld, etwas Staunendes, obwohl sie eigentlich fein gearbeitet sind, kurz vor den Zeilenumbrüchen immer wieder mit den Erwartungen der Lesenden spielen. Dieses Spiel reicht jede Zeile an die nächste weiter, dazwischen hier und da ein Funkenschlag.
In Marlene Schulz Dialogprosa stehen zwei Frauen, eine jüngere und eine ältere, in einem Schaufenster. Falls dies eine Reflexion über Role Models darstellen soll, über Schaufensteroptiken vs. Realität oder über Altersangelegenheiten, so bin ich nicht dahintergekommen, inwiefern dieses Stück hintergründig oder vordergründig an irgendwelchen Oberflächen kratzt.
Willy: Wer alles durchschaut schaut immer nur in den Spiegel.
Dann und wann geht es geistreich zu in Günter Eichbergers Theaterauszug „Das himmlische Kind“. Shakespeares „Der Sturm“ comes to my mind und Leonora Carringtons „Windsbraut“, aber größtenteils hängt Eichberger seinen Plot wie ein Fähnchen in den Wind; viele „…“ lassen die Sprache manchmal wie ein haltlose Nichtverkörperung wirken.
Alexander Macho hat eine kleine Hommage an den großen Thomas Bernhard verfasst, die fast zu klein geraten ist, geradezu flüchtig, briefly. Mit einer klimpernden Einfachheit schreibt sich Macho durch seinen Stoff. Schön ist das dennoch.
Junger Mann; er studiert in Graz; er verkehrt in einem Kaffeehaus, wo er Bier trinkt, liest, sich Notizen in ein gewöhnliches Heft macht und Musik aus der Jukebox hört; auf dem Tisch liegt neben dem Glas häufig die Zeitschrift für Literatur manuskripte;
Gastauftritt für die manuskripte im von Mascha Dabić übersetzten Kurzprosatext von Dragan Aleksić „Der Kuss auf dem Fensterglas“. Der zieht relativ unspektakulär vorbei, hat lediglich eine intensive, einfühlsame Note wenn es um Rückblicke innerhalb des Textes geht.
Ein Glanzstück dieser Ausgabe stellt die Erzählung „Gegen den Strom“ von Irene Diwiak dar, ein behutsam inszeniertes Erinnerungsdurchkämmen, über eine Zeit in einer Kommune, eine Freundschaft, ein Heranwachsen, gekonnt verzerrt durch Unsicherheiten, überzogene Klarheiten.
Hast du gehört, nachts werden die Satzzeichen
In unseren Dialogen gesprächig
[…]
Du schläfst, und ich verstehe
Plötzlich die Stille
Zeilen, die wie Luftstöße, Atemzüge, ein fragiles Windspiel voller Vorstellungen in Schwingung versetzen. Daniela Chanas Gedichte wirken beschwörend, aber auch sezierend und richten sich in diesem Widerspruch ein. Von Nähe und Nahen wird viel gesprochen und hinter diesen Vagheit tun sich die Entfernungen und die brennend heißen Kontaktstellen auf.
Denn ich brauchte so sehr, dass sie mich brauchten.
Wie Traumgestalten wirken die beiden Erscheinungen, die wie aus dem Nichts das Leben des/r Ich-Erzählers/in in Carina Plinkes Prosa bereichern: ein Silberfuchs und eine Frau. Der Text überrascht nicht, fesselt nicht, er versäumt es, seine Inhalte greifbar zu machen. Aber gerade das macht ihn wieder besonders. Er kreist ohne Kern, ohne Perspektive, verschwindet schon an dem Punkt, an dem er beginnt – wie unser aller Existenz, von Dingen betreten und verlassen, auf die wir keinen Einfluss haben.
Amüsant, ulkig, ein bisschen ungelenk in manchen Sätzen (z.B.:
Allerdings wurde im Laufe jedes unserer Gespräche immer wieder der Punkt erreicht, da seine Eitelkeit und seine Selbstachtung all die anderen sympathischen Charaktereigenschaften ins Dunkle sich verkriechen ließen. )
kommt Moritz Bloders kurze Erzählung „Der Dodo“ daher. Ein leicht unbehagliches Schelmenstück – wenn die aussterbenden Tiere alle mit uns plaudern könnten, würde das den Menschen vielleicht auf die Sprünge helfen?
Das Dossier ist der Versuch, ein Bild davon zu geben, was die junge zeitgenössische Lyriklandschaft in Österreich ausmacht, wer die Autor*innen sind, welche Zentren es gibt, welche Ränder, welche Verlage und Zeitschriften, welche Initiativen.
Das Lyrik-Dossier „wo warn wir? ach ja“ (Zitat aus einem Gedicht von Stefan Schmitzer), ausgewählt und editiert von Christoph Szalay und Robert Prosser, unterteilt seine Autor*innen und Texte in die vier Himmelsrichtungen. Jeder der vier Richtungen ist eine Einführung vorangestellt, in der die Regionen, ihr Personal, ihre infrastrukturellen Gegebenheiten, etc., kurz umrissen werden. Den Anfang macht der „Westen“ mit Tirol, Vorarlberg, Salzburg und Südtirol.
Der erste Autor ist Matthias Vieider mit dem überschäumenden, hier und da schon fast albernen Gedicht „das neue lied“. Meerestiere und Körperöffnungen tanzen einen Reigen, fein kulminierend.
In den Gedichten von Maya Rinderer, überzogen von einer leichten, zynischen Komik, erlebt man Momente des Widerwillens. Bei Esther Strauß dagegen ist die Ironie, der komische Zug um den Mund des Gedichts, die Hauptattraktion und die Texte haben einen zärtlich-spitzen Sinn für Humor.
Linda Achberger schickt die Lesenden durchs Sandige, durch Körnige, mit seiner winzigen Trockenheit und Härte, die doch etwas Sanftes hat, etwas Nachgebendes, etwas Endgültiges. Im Anschluss verdichtet Greta Pichler in einem kurzen Gedicht die Reichhaltigkeit eines Naturmoments, den sie zur größeren Idee werden lässt und einem dadurch kurz alle Sinne aufschraubt.
bin hier
mit Wind von hinten, da fällt was in die
Stirn, da ist innen/außen kein
Unterschied mehr. spielt Ortlosigkeit
eine Rolle und immer so weiter und
keiner hält den anderen fest, da seh
ich mich selbst nicht mehr.
Johanna Wiesers Gedichte haben eine subtile Komplexität – nicht aufgesetzt, sondern der differenziellen, ambivalenten Bewegung innerhalb der Gedichte geschuldet, die eine tiefsteigende Wirkung entfaltet. Zwischen den Schritten dieser Texte horcht man als Leser*in auf alle möglichen Echos, Hintergrundgeräusche, Untertöne.
Andreas Parggers Beitrag kommt mir etwas überladen vor und bei aller Abgeklärtheit zu ungeduldig, als wolle er seine eigene Bedeutsamkeit, seine Verdichtung erzwingen.
Die letzten beiden Gedichte des Westen-Teils, von Sarah Rinderer und Vera Vieider, sind eher behutsam, wie ein Luftholen, aus dem am Ende ein halbes Seufzen, ein halber Hauch wird.
Zweiter Teil des Dossiers: Der Norden, was Ober- und Niederösterreich meint.
im körper leben mehrere gestalten
vielleicht die hälfte davon kam per post
da war etwas von großem wagemut
als die ersten den flaschenboden betraten
Der erste Beitrag ist von Lydia Steinbacher. Wie Tasten werden hier Sinneseindrücke kurz angeschlagen, aber nicht hell, sondern sehr tief, entlarvend fast.
Mit einer gewissen Virtuosität, einem Schuss Einfallsreichtum und einem bohrenden Ansatz verstricken sich Niklas L. Niskates Gedichte lustvoll in sich selbst. Cornelia Travniceks Lyrik macht dagegen nachdenklich. Wie sie schreibt:
was will uns bloß die semantik
Sehr einfach, sehr direkt, sprechen Marianne Jungmaiers Gedichte von Liebe, von Schmerz, von Sehnsucht. Dann verhandelt Johannes Witek eine Krimi-Trilogie-Idee in einem narrativen Gedicht, was Spaß macht, aber zum ersten Mal kommt hier im Dossier die Frage auf: ist das wirklich ein Gedicht? Sollte ein Gedicht, selbst wenn es erzählend ist und in freien Versen gehalten, nicht mit den Zeilenumbrüchen arbeiten? Das geschieht hier nur bedingt.
Sandra Hubingers Gedichte haben eine fein-warme Ausstrahlung, eine behutsame Entfaltungskurve, Unaufdringliches in Hülle und Fülle. Diese Behutsamkeit generiert eine seltene Form von Aufmerksamkeit, die Detailkonzentrationen besser hervortreten lässt. Die Verse sagen förmlich: hier, spür mal meine Worte.
Nach einem leicht in Sentimentalität eingelegten, nichtdestotrotz atmosphärischen Gedicht von Verena Stauffer folgt Thomas Havlik, bei dessen beiden Texten ich den Eindruck habe, dass sie bloß auf Wortspiele hinauslaufen, deren weitreichendere oder tiefere Verweise ich nicht wirklich ersehen kann.
warum wackelt das
baumhaus? bin ich
gebürtiger hesse?
Da ist Stephan Roiss für meinen Geschmack offener und ehrlicher mit seiner in den Nonsense hineinragenden Lyrik, die mitunter etwas Wagemutiges hat. Nach sehr reduzierten Gedichten von Maria Seisenbacher und einer schön gegliederten Komposition von Antonia Rahofer, ist Philip Hager der letzte aus dem Norden. Passenderweise heißt sein Text „Der Ausgang des Labyrinths“. Es ist eines der besten und schlichtesten Gedichte, die ich im Dossier gelesen habe, ganz unverstellt, eindringlich, mit einem Zug zur Parabel.
Als drittes: der Osten, Wien und Burgenland.
Dieser Abschnitt beginnt direkt mit dem großartigen Text „Hannah Arendts Ferienort III + IV“ von Verena Dürr, im Prinzip eine mit Ironie und Witz gewürzte Farce, ausstaffiert mit Aufzählungen von Schriftstellerinnen, in der Bitteres und Nachdrückliches mitschwingt.
Fast ebenso nachdrücklich dichtet Katrin Bernhardt ihre (von „Einmal werde ich“ Anfängen durchzogene) Zusage (oder Absage?) ans Aufbrechen.
Schmissig, physisch geradezu, geht es mit Lydia Haider und ihrem Text „Nur Ode“ weiter, einem herrlich rasanten Stück, das seine Sätze wie Zähne ins Fleisch der Bedeutungen schlägt.
In Franziska Füchsls Gedicht verschwindet die treibende Kraft, die Stimme, fast hinter ihrem Suchen, ihren Schnipseln. Aber so muss man genau aufpassen, genauer hinhören, wiederlesen, lesen.
Armin Schrötter nimmt mit seinem Text zwei ganze Seiten ein – mehr Platz bekam bisher keiner. Der Text braucht auch eine Weile, um anzulaufen, gehört aber trotz seiner unaufdringlichen Narration nicht zu den stärksten Texten des Dossiers.
Eine unheilvolle Vagheit, kurz davor sich in harte und spitzzulaufende Oberflächen zu verwandeln, durch die sich Andeutungen und Anspielungen ziehen wie Adern durchs Gestein, ist in Cornelia Hülmbauers Zyklusausschnitt die poetische Konstante – eine virtuose Mischung aus Heftigkeit und Ambivalenz.
Es scheint, als würde in den Versen etwas nicht ganz Greifbares angegangen, als wollte Katharina Johanna Ferner eine Atmosphäre scharfstellen, die aber weiter in der Ungenauigkeit, der Schemen- und Eindrucksform verharrt. Dadurch entsteht bei mir als Leser aber eine zarte Nähe zu den Gedichten, ich rücke viel dichter heran, um diese Entfernung aufzulösen.
Last, but not least: der Süden, mit den Regionen Steiermark und Kärnten.
So wirklich finde ich mich darin nicht zurecht, aber Barbara Juchs Gedichte haben etwas Launiges, das mir gefällt, teilweise wirken sie allerdings auch etwas albern.
der fels ein flimmern, die haut ein flimmern. erinnerung, nicht jetzt.
Intensiv ist vermutlich das beste Wort, um den Auszug aus Oravins „logbuch. licht“ zu beschreiben. Intensiv, weil die Worte nicht nur eine Vorstellung aufbauen – sie beginnen sofort aus dieser Vorstellung etwas Dringendes, Re- und Inter-Agierendes zu machen.
Tristesse Noblesse in Daniela Kocmuts zwei Gedichten, in denen es um Gepäck, Ausschwitz und tanzende Staubteilchen geht. Bei Marcus Pöttler summt im Anschluss ein Fisch, beim Anblick von Sushi, Lieder von den Beatles, bevor Verena Gotthardt mit filigranen, bestechenden Texten die Gewichtung wieder etwas mehr zur Verdichtung hin verschiebt.
gestaunte Bauklötze haben die Stadt
menschgedankengroß gemacht und nur über unendliche
Penrose-Treppen erreichst du das gezeichnete Leben,
Etwas verwickelter geht es dann bei Miriam Auer zu, die Hochglanz- und Trickbildeindrücke gekonnt aneinanderreiht, mit Einschüben und Wendungen arbeitet, die innere Spannung ihres Gedichts aber nicht überstrapaziert – ihr „Barte im Glas 1 – Cruz“ ist für mich eines der besten Gedichte.
Sonja Harters Gedichte wirken auf mich zunächst wie trotzige Nihilismen, fast schon plakativ. Ihre Schonungslosigkeit verleiht ihnen eine Kraft, aber die wirkt ein bisschen aufgesetzt.
Kvina Hutterers fast schon sanfte Verse sind einfach, direkt, besinnend. Die Schlichtheit wirkt fast ein bisschen fehl am Platze, aber die darin liegenden Offenheit ist ein poetisches Gut, das selten ohne Wirkung bleibt. Anima Majetić hat ein allegorisches Gedicht geschrieben, in dem das Leben eine Straße ist, und das von der Schwierigkeit handelt, sie zu befahren.
Reinhard Lechner entfesselt einen schönen Erzähl- und Eindrucksstrom in seinem Gedicht „Lukas, 2001“, einen ganzen Zeitgeist beinah und doch hat das Ganze die Unsortiertheit von zusammengewürfelten Erinnerungen. Ein sehr menschlicher Text.
DC Comics & Justice League – gutes Feld für ein Gedicht! Mit beeindruckender Kleinstarbeit eruiert Stefan Schmitzer in seinem Gedicht „nike buffy justice league. wenn trompeten beten.“ die Anfälligkeit des Serien-Junkies für untergeschobene Heroic (und heroische Musik), die gerne mal die Lücken in Handlung und Co. klittert und die Figuren richtig inszeniert, wenn sie mal wieder etwas tun, was eher dans sans caractère ist. Warum Schmitzer allerdings glaubt mit „Buffy im Banne der Dämonen“ besser beraten zu sein – keine Ahnung. Vielleicht schau ich mir direkt mal eine Folge an. Oder eine Staffel. Oder zwei.
Unbändig endet das Dossier mit Fiston Mwanza Mujilas „Kasala für mich selbst“, einem geradezu preisenden Lied, das zumindest auf dem Feld der Beschwörung noch einmal zeigt, warum Lyrik wichtig ist, als Ausdrucksmittel, als ästhetische Bewegung, als Essenz einer sich dem Lebendigen widmenden Bemühung.
Auch insgesamt Hut ab vor diesem Dossier, dass eine Menge Namen, Stile, Formen und Richtungen zusammenbringt (die ganzen Informationen und Hintergründe in den Einführungen nicht zu vergessen), sodass eigentlich für alle Lesenden was dabei sein sollte. Also: wenn Lyrik schon so wunderbar gesammelt und präsentiert wird, sollte sie auch gelesen werden!
Ein weiterer Sonderteil im Heft widmet sich der neuseeländischen Literatur, wiederum übersetzt von Mascha Dabić, herausgegeben von Chris Price und Emily Perkins, die auch eine wunderbare Einführung geschrieben haben. Meine Favoriten sind die Kurzprosastücke von Tusiata Avia (aus ihrem Text stammt der Satz „Ich betrete meine Kehle, und du bist auch da“), wirklich großartig, die Gedichte von Hera Lindsay Bird, die Erzählung „Das Erbe“ von Paula Morris, in dem es um eine Hexenverbrennung geht, sowie die Erzählung „Die Enthüllung“ von Ashleigh Young.
Der Kunstteil und ein Essay von Katja Johanna Eichler beschließen den Band – letzter Text hat mir noch mal ziemlich aus der Seele gesprochen. Neokapitalisierung klingt zwar etwas hart, wenn es um Literaturpreise geht, aber Eichler legt die Problematiken der Verzahnung und überhaupt die Problematik bestimmter Ausschreibungen sehr gut dar.
Fazit: eine schon aufgrund des Lyrikdossiers sehr lesenswerte Ausgabe. Bitte holen und bitte nicht nur holen und in den Schrank stellen!
Fixpoetry 2017
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