Hammarspräludium
„Lange war das einzige Bild, das ich mir von meinem Vater vergegenwärtigen konnte, das von ihm als Toten. … Dieses Bild gibt es nicht, dennoch war es lange so, dass dieses Bild alle anderen Bilder überlagerte.“ (S. 143)
Linn Ullmanns tiefschürfende lebenslange Reflexion über ihren Vater, den weltberühmten Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergman, ist von einem paradox anmutenden Wunsch aus einer doppelten Perspektive getragen. Als Kind war sie von dem Verlangen erfüllt, im Sauseschritt erwachsen zu werden, und als Erwachsene sehnte sie sich immer wieder zurück in die Bilder sprudelnde Welt der Kindheit. Und wie wollte sie sich diesen Zeitmaschinen-Wunsch erfüllen? Immer wieder führte sie, wenn sich die seltene Gelegenheit ergab, Gespräche mit ihrem Vater, die sie auf Tonband aufzeichnete. Es waren insgesamt nur sechs Aufnahmen, die sie stets bei sich trug. In der Form von Transkripten, die, gemeinsam mit sporadischen Notizen, in ihrem Buch abgedruckt sind, erweisen sie sich somit als Dokumente einer besonderen Tochter-Vater-Beziehung. Je häufiger der Vater abwesend war, desto intensiver erwies sich die Sehnsucht der Tochter nach der körperlichen Anwesenheit des ach so Vielbeschäftigten. Eine visuelle Spur des einfühlsam beschriebenen Verhältnisses vermag der Leser unter der Titelanzeige auf der verwischten Farbfoto-Reproduktion auf dem Buchumschlag entdecken. Linn schaut mit leicht verschränkten Armen, ihr Kopf bedeckt von einer kecken gelben Mütze, in die Kamera, während der neben ihr sitzende Ingmar mit streng verschränkten Armen - ohne Blickkontakt zu seiner Tochter - sich gleichsam unbeteiligt ablichten lässt. Signalisiert ein solches Foto die bereits in der Eingangspassage des ersten Kapitels Hammarspräludium dreifach beschworene Liebe? Die 1965 zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater entstandene Liebe; das Liebespaar, zu dem Linn ein besonderes Verhältnis entwickelte, weil sie zu Vater und Mutter eine jeweils getrennte Beziehung hatte und schließlich die dritte Liebe:
„Der Ort Hammars, oder Djaupadal“ (S. 11).
Es ist jenes Haus auf der Insel Farö, wo Bergman viele Jahre lebte und schaffte, ein Ort, an dem er aber nicht ganz zu Hause war, weil er ständig irgendwo Filme drehte oder Theaterstücke inszenierte, sagt die Erzählerin. Und zwischendurch irgendwelche Liebschaften hatte, während Ingrid, seine Frau, als Schauspielerin oft unterwegs war, was bedeutete, dass ihre Tochter oft von Kindermädchen betreut wurde. Also ein ziemlich hektischer Alltag, in dem Linn, einen Namen, den sie übrigens verabscheute, ihre Sehnsuchtsräume und ihre Lieblinge immer wieder herbeizaubern musste. Umso verständlicher, dass das aufgeschlossene Kind kein
„Buch mit sehr vielen Namen“
oder ein Buch,
„in dem alle Namen so alltäglich sind, dass man sie auf der Stelle vergisst“ (S. 11)
schreiben wollte. Stattdessen entwickelt sie ihre eigenständigen Projekte, lernt früh unterschiedliche Kulturräume kennen und entwirft ihre Wunschvisionen, Räume, in denen ihre Vorbilder bestimmte Rollen übernehmen.
Das rund fünf Jahre nach dem Tod des Vaters im Jahre 2007, dem Todesjahr von Bergman, begonnene Buchmanuskript zeichnet sich durch eine eigenwillige Komposition aus. Es ist aufgeteilt in sechs Kapitel, von denen vor allem das erste (Hammarspräludium) und das sechste (Gique) gewisse musikalische Assoziationen aufweist, die der Musikalität des Vaters geschuldet sind. Jedes Kapitel ist aus unterschiedlichen Textfeldern zusammengesetzt, auf denen die Ich-Erzählerin je nach Situation und in Abhängigkeit von der Dichte der Erinnerung, reflektiert und spontan, mal gefühlsbetont, mal distanziert, oft mit sozialkritischen Randbemerkungen, sich in ihre oft chaotische Kindheit wie auch in ihre reifen Lebensphasen versetzt. Auf diese Weise kreuzen sich ständig fiktive Einstellungen mit authentischen Berichten, wie zum Beispiel die gelegentliche Zusammenkunft der Kinder, die aus verschiedenen Liaisons von Ingmar Bergman stammten. Der „Über-Vater“ lud sie gelegentlich in sein großes Haus in Hammars auf Farö ein, und die verwunderte Linn kommentierte dieses bunte, quirlige Treffen mit leiser Ironie. Ihr Verhältnis zur leiblichen Mutter Liv Ullmann war hingegen von körperlicher Hingabe und tiefem Mitgefühl für deren oft schwierige Situationen nach der Scheidung von ihrem Ehegatten drei Jahre nach der Heirat im Jahr 1968 bestimmt, als Linn gerade erst drei Jahre alt war.
Auffällig in der narrativen Struktur ist der häufige Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Er erzeugt beim Lesen ein intensives Gefühl von Empathie mit den auftretenden Personen und den psychischen Anforderungen, den die Ich-Erzählerin ausgesetzt ist. Auf diese Weise vermag der Leser sich nicht nur in die vielschichtigen Wahrnehmungen der kindlichen und jugendlichen Linn versetzen. Es gelingt ihm auch die schwankenden Gefühle der Erzählerin gegenüber ihrem leiblichen Vater nachzuvollziehen. Dank einer einfühlsamen Sprache, die oft aus den unterbewussten Quellen in die bewusste Beobachtung von Alltagsvorgängen aufsteigt. Kein Wunder, dass vor allem die schwedischen und norwegischen Pressestimmen voll des Lobes sind über die Tiefenschärfe ihrer Autorin, die narrative Nuancierung mit nüchterner psychologischer Wertung verbindet. Ein ungewöhnlicher Roman also, dessen Lektüre sich nicht nur lohnt sondern Spaß macht.
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