Wenn der Roman zum Ereignis wird
Authentizität steht derzeit hoch im Kurs. Galt in der Wirtschaft vor einigen Jahren noch die „corporate identity“, also, das Verschmelzen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu einem unternehmerischen Ganzen, als erstrebenswert, erleben wir derzeit die gegenläufige Bewegung. In den Managementkursen werden neuerdings eine speak up-Kultur und ein authentisches Auftreten eingefordert. In wie weit das in der Praxis tatsächlich trägt, sei dahingestellt, zumal die Trennlinie zwischen sympathisch-authentisch und nervig-aufmüpfig in hierarchischen Strukturen bisweilen recht dünn ist und nicht zuletzt von den Empfindungen – und Empfindlichkeiten – der jeweiligen Akteure abhängt.
Auch beim Lesepublikum kommt Authentizität momentan gut an und wird mit entsprechenden Verkaufszahlen honoriert. Das war nicht immer so. Lange Zeit hing dem Schlüsselroman ein eher schlechtes Image an, galt er doch als indiskret und journalistisch. Literarischen Ruhm erlangte man mit ihm selten; bestenfalls generierte man notorische Aufmerksamkeit, wie etwa Maxim Billers Roman „Esra“, mit dem sich die Gerichte mindestens so eingehend befassten wie die Feuilletons.
Lisa Hallidays „Asymmetrie“ ist ein Schlüsselroman par excellence. Sein Erscheinen in deutscher Sprache (Übersetzung: Stefanie Jacobs) ist in den vergangenen Wochen als ein literarisches Ereignis gehandelt worden. Fast alle überregionalen Medien berichteten über die obligatorische Rezension hinaus. Das liegt jedoch nicht so sehr an den – zweifellos vorhandenen – literarischen Qualitäten des Buches, sondern in erster Linien daran, dass die Autorin in dem Buch in großer Offenheit ihre knapp zweijährige Affäre mit dem ewigen Nobelpreiskandidaten Philip Roth ausbreitet. Gerichtliche Auseinandersetzungen sind in diesem Fall jedoch nicht zu befürchten; Roth hatte den Text vor seinem Tod noch gelesen und, glaubt man der Verfasserin, für gut befunden.
Daran zu zweifeln gibt es auch keinen Grund. „Asymmetrie“ ist ein bemerkenswertes Buch, das jenseits der Sensationslust auch literarische Ansprüche erfüllt. Dass Halliday erst gar nicht versuchte, diese erste und naheliegende Dimension des Themas unter den Teppich zu kehren, sondern im Gegenteil sich dazu entschloss, die damit verbundene mediale Breitenwirkung für ihre Zwecke zu nutzen, spricht für sie; alles andere wäre unglaubwürdig gewesen. Zugleich ist sie klug genug, die Geschichte ihrer Beziehung mit Roth, der hier Ezra Blazer heißt, nach knapp 200 Seiten durch eine raffinierte Parallelhandlung zu brechen, um erst ganz am Ende des Romans, in einem kurzen dritten Teil, noch einmal darauf zurückzukommen.
Alice, so der Name der Protagonistin, ist zum Zeitpunkt ihrer Beziehung mit Ezra Mitte zwanzig, er gut über 70. Nicht nur das Altersgefälle ist frappierend, sondern auch die gesellschaftliche und soziale Position der beiden: Hier der weltbekannte Autor, der auf der Straße und im Restaurant von seinen Fans erkannt wird und über Vorschüsse in Millionenhöhe verhandelt; da die Verlagsassistentin, der im kalten New Yorker Winter der Mantel zu kalt wird – worauf ihr Ezra 1000 Dollar für einen neuen, wärmeren zusteckt –und die davon träumt, selbst Schriftstellerin zu werden. Nach außen wird um die Beziehung kein großes Aufheben gemacht. Wenn die beiden das Ferienhaus des Autors vor den Toren New Yorks besuchen, fungiert Alice wahlweise als Patenkind oder Verlagsmitarbeiterin, mit der das nächste Buch besprochen wird. Ob die Nachbarn ihnen die Geschichte tatsächlich abnehmen, sei dahingestellt. In New York übernimmt Alice allerlei Besorgungen für den Freund, dem das Alltägliche zunehmend zu Last wird, und sorgt sich obendrein aufrichtig besorgt um dessen angeschlagene Gesundheit. Im Gegenzug bezahlt er ihr die noch ausstehenden Kredite ihres Harvard-Studiums und auch sonst etliche kleinere und größere Anschaffungen für ein kommodes Leben. Finanzielle Zuwendungen spielen in dieser Beziehung durchaus eine Rolle, Alice nimmt sie – zögerlich nur am Anfang – gerne in Anspruch. Dass Ezra auch dem Hot Dog Verkäufer um die Ecke 750 Dollar zugesteckt hat, obwohl ihm an Hot Dogs nichts liegt, erfährt man am Rande. Offenkundig gefällt er sich in der Rolle des Gönners, der den nahen und auch nicht so nahen Menschen in seinem Umfeld Gutes tut, ohne dass darüber groß gesprochen werden muss.
Der zweite Teil des Buches – der Titel „Asymmetrie“ ist vielgestaltig – bringt dann den größtmöglichen Themen- und Perspektivenwechsel. Von der in der dritten Person geschilderten Beziehung zwischen Alice und Ezra wechselt die Autorin in die Ich-Perspektive eines muslimischen Mannes, der am Londoner Flughafen Heathrow an der Einreise gehindert wird. Im Transitbereich des Flughafens reflektiert er über sein Leben, von seiner Kindheit und Jugend im von Krieg und Gewalt erschütterten Irak, bis zur Promotion in Wirtschaftswissenschaften in den USA. Dass dies für den erfahrenen Pendler zwischen Ost und West ausgerechnet in der Transitzone eines Flughafens stattfindet, der sich dann auch noch als Sackgasse erweist, unterstreicht die weltpolitischen und gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte; und bietet den denkbar größten Kontrast zur vermeintlich weltoffenen, liberalen und überwiegend weißen New Yorker upper middle class, in der sich das Leben von Alice und Ezra abspielt.
Der dritte, letzte und kürzeste Teil des Buches ist schließlich ein Interview mit dem frischgebackenen Nobelpreisträger Ezra Blazer in der – real existierenden – BBC 4 Radioshow „Desert Island Discs“. Abgesehen davon, dass Ezra in dem Gespräch die Existenz einer unehelichen Tochter einräumt und es nicht versäumt, die Moderatorin offensiv anzubaggern, verweist er auf das für sein literarisches Werk konstitutive Element des Zusammenfließens von tatsächlich Erlebtem und Fiktion. Wobei er, nicht anders als etliche seiner berühmten Kolleginnen und Kollegen, betont, dass das Reale in Reinform in seinen Werken ebenso wenig vorzufinden ist, wie die vollständige Imagination. Mit diesem Schlenker, dem der Charakter eines augenzwinkernden Nachwortes zugeschrieben werden könnte, endet Lisa Hallidays Roman.
„Asymmetrie“ ist eine kluge Collage aus Geschichten und Perspektiven, in dem das erzähltheoretische Element stets mitschwingt. Lediglich eine kurze Anspielung von Alice in Teil eins, demnach sie darüber nachdenke, einen Roman aus der Perspektive eines muslimischen Mannes zu schreiben, deutet eine Verbindung zum zweiten Teil des Buches an. Ezras Reaktion darauf ist bezeichnend, er legt ihr nahe, über das zu schreiben, was sie tatsächlich erfahren und berührt habe. Nach der Lektüre von „Asymmetrie“ wird deutlich, dass Alice beide Pfade weiterverfolgt und miteinander verflochten hat. Sie ist sowohl Ezras Rat gefolgt als auch ihrem ursprünglichen Plan treu geblieben. Das Resultat ist ein lesenswerter Debütroman, der sehr viel mehr ist als nur ein literarisches Ereignis.
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