No ideas, but in things (William Carlos Williams)
Es war die Bezeichnung „Recherchegedichte“, die mich neugierig gemacht hat, auf Marcus Roloffs neuen Gedichtband „Waldstücke“, der kürzlich im gONZo Verlag erschienen ist.
In diesem Band geht Roloff in 11 Gedichten zumeist ungeklärten Mordfällen aus den letzten hundert Jahren nach. Man kann sich jetzt fragen, wie ist das gemacht? Aber auch, warum solche „Recherche Gedichte“? Was fügt das der Wirklichkeit hinzu? Wo entsteht hier ein neuer Blickwinkel? Wo taucht das Gedicht unter die Oberfläche der Zeitungsmeldungen und Polizeiberichte?
Zunächst sollte jedoch erwähnt werden, in welchem Rahmen die Gedichte erschienen sind. Einmal handelt es sich beim gONZo Verlag generell um einen Verlag, der sich seit seiner Gründung durch Miriam Spies vor mittlerweile zehn Jahren, auf literarischen Rock´n´Roll, Beatlyrik, Literatur gesellschaftlicher Grenzgänger und experimentelle Mischformen“ spezialisiert hat, zudem sind die Gedichte Teil der Verlagsreihe „verstreute Gedichte“. Diese Reihe besteht seit 2012 in Form DIN A 5 großer Heftchen, genreübergreifend, und von der Verlegerin Miriam Spies sehr schön gestaltet. Schlicht und doch passend zum Inhalt, wenn z.B. die ohnehin recht große Schrift bei Clemens Schittkos „der Aufstand kommt so oder so“ mit jeder Zeile größer wird, oder der Hintergrund von Marcus Roloffs „Waldstücken“ moosgrün gestaltet ist. Diese Reihe, in der sich auch die Gedichte Schittkos und der Band „In der Nachbarschaft“ von Benedikt Maria Kramer finden, ist auf subtile oder offene Art gesellschaftskritisch ausgerichtet.
Ungeklärte Mordfälle also als Teil gesellschaftskritischer Beobachtungen?
Nimmt das das erste Gedicht aus Roloffs „Waldstücke“: „Werbung post mortem“, laut Anmerkungen eine Collage, könnte man diesen Verdacht erhärten.
Darüber hinaus musste ich bei den „Recherchegedichten“ unwillkürlich an Charles Reznikoffs „Testimony“ denken. An dieses Langgedicht aus amerikanischen Gerichtsfällen um die Jahrhundertwende. Während Roloff, so vermute ich, sich hauptsächlich auf Schlagzeilen und Polizeiberichte bezieht, und keine Gerichtsakten gewälzt hat. Bis auf einen Mord sind alle Fälle, aus denen Marcus Roloff Gedichte gemacht hat, ungeklärt. Ein Glossar auf der letzten Seite führt die Einzeltaten samt Hintergründen auf.
Was die Machart betrifft, scheint es eine Übereinstimmung zwischen Roloff und Reznikoff zu geben: „Dichtung stellt die Sache dar, um das Empfinden zu übermitteln. Sie sollte hinsichtlich der Sache genau sein und zurückhaltend hinsichtlich des Gefühls.“, zititert Reznikoff Wei T´ai.1 Und diesem Grundsatz scheinen auch Roloffs „Recherchegedichte“ zu folgen, in denen menschliches Drama schmucklos geschildert wird. Insofern sind die Recherchegedichte vielleicht in die Tradition der „appropriierten“ oder „gefundenen“ Dichtung einzuordnen, als deren Vorläufer Reznikoff angesehen wird.
Dem Titel „Waldstücke“ gerecht werdend, wird in nahezu jedem Gedicht Bezug auf den Wald genommen. Dort geschehen die Morde, oder hier werden die Leichen gefunden.
Waldstücke, Wald, oder wenigstens Details des Waldes, wie Fichtennadeln, finden sich in jedem Gedicht. Aus der Reihe fällt allein der 1957 geschehene und damals aufsehenerregende Mord an der Prostituierten Rosemarie Nitribitt, über den es mittlerweile Bücher, Filme, Hörspiele, Reportagen und sogar ein Musical gibt.
Roloffs Gedichte spielen mit Zitaten, bedienen sich einer einfachen Sprache und erzeugen das „Unheimliche“, das Bildhafte, die Szenen, die vor dem Auge des Lesers erscheinen, allein durch die Zusammenstellung weniger Details. Zusammenstellungen, die das scheinbar geschlossene Geschehen unversehens öffnen.
die augen der tiere
waldstück bei gröbern
ein hof hinter kaifeck
spuren im schnee
hin nicht hervom wald aus gesehen ein mann
schaut auf sechs fotos(vom tatort) der zwei jahre alte
josef im stubenwagendie magd unterm bett
halb unter bettzeugdie grubers im stall
unter stroheines der tatwerkzeuge (reuthaue)
ein jahr später bei abrissarbeiten
entdeckt in einem
zwischenbodendas satte von unbekannten
versorgte vieh
Urteile werden nicht gefällt. Reznikoff sah eine Analogie zwischen der Zeugenaussage vor Gericht und „der Zeugenaussage des Dichters vor dem Leser“ (Reznikoff über Testimony). Ganz ähnlich konfrontiert Roloff seine Leser mit der Offenheit ungelöster Mordfälle, die immer auch ein Stück Zeitgeschichte sind.
- 1. Einen Dichter aus der Song Dynastie
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