Geboren am 24. Dezember
Besinnlichkeit, Andacht, Zuckergussgeruch. Das kann Weihnachten sein. Oder man umschreibt das Familienfest einfach mit „Ach ja, muss ja“ und „Bis Ostern“. Das legt Maruan Paschens neuer Roman nahe. Das schmale Buch ist zwar nach dem Wiegenfest Jesu benannt, dessen Name fällt jedoch nur ein einziges Mal in der schnippischen Bemerkung, Jesus werde nicht gebraucht, um Wasser in Weißwein zu verwandeln. Diese Blasphemie stammt von Tarzan, einem der vier Onkel, mit denen der Erzähler und seine Mutter sich über Weihnachten rituell an einem See in Schleswig-Holstein treffen, um den übermäßigen Verzehr von fettigem Essen und Alkohol hinter sich zu bringen. Zeitweise kettet sich die Familie dabei mit Handschellen zusammen. Weil man das schon immer so gemacht hat. Aber Paschens „Weihnachten“ ist kein dunkles Kammerspiel, in dem sich eine verlogene Sippschaft gegenseitig zerfleischt. Heiligabend ist nur der Ausgangspunkt einer Therapiesitzung des Erzählers bei einem gewissen Dr. Gänsehaupt.
Ohne Nachfragen oder Widerrede durch den Therapeuten geht es auf rund 200 Seiten in 25 Kapiteln vor allem um das Aufwachsen und Zurechtkommen: in Deutschland, ohne Vater, der ein „in Deutschland lebender Araber“ ist oder war, jedenfalls die Familie nach der Geburt schnurstracks verlassen hat, weshalb Maruan als Einziger in der Familie Paschen so aussieht, dass man ihn in Deutschland wohl nicht als Deutschen auf der Straße erkennt. Autor und Erzähler tragen den gleichen Namen. Der Autor Paschen bewahrt seinen Roman aber glücklicherweise durch den einfallsreichen und unzuverlässigen Erzähler Paschen vor moralisierender Schwermut oder besserwisserischer Theorie übers Fremdfühlen. Denn was er seinem Therapeuten großtrabend gesteht, stellt sich immer wieder als reine Erfindung heraus. Maruan will Wörter „so“ nicht sagen oder verstanden wissen, lässt eine eben aufgetischte Geschichte als bloße Lüge auffliegen. Auch wenn die erzählerische Haltung damit grundsätzlich einem sympathischen Schulterzucken gleicht, bleibt Ironie Scheintherapie. Denn in den kurzweiligen Kapiteln gibt es immer wieder Szenen, die die Grenzen des zwinkernden „Nicht so gemeint“ aufzeigen: Wenn beschrieben wird, dass besagter Onkel Tarzan, der als Zwölfjähriger so heißen wollte und immer noch so genannt wird, seinem Neffen den Duden „Kanakisch – Deutsch, Deutsch – Kanakisch“ vor einigen Weihnachten sauber verpackt unter den Christbaum legte und die Familie das allgemein „drollig“ fand, wird, egal auf welchem Fiktionalitätsgrad, brutale Ignoranz dargestellt. Daraus entwickelt Maruan aber keine Opfergeschichte, sondern eine Beobachtungsgabe und ein Talent für Übertreibungen. In einem Kapitel geht es um eine Geliebte, Raya, die ihr Verhältnis zu Maruan vor ihrer algerischen Familie geheim halten muss. Das schafft sie unter anderem, indem sie einen Blick von ihm auf der Straße mit „Was glotzt‘n du so, du Perverser!“ quittiert. Identität ist zwar Thema in „Weihnachten“, ein abgeschlossenes Selbstbild wird aber nicht als Lebensziel deklariert, denn es ist nicht Voraussetzung dafür, dass jemandem auffallen kann, was um ihn herum falsch läuft. Der Roman ist dann am stärksten, wenn er sich nicht allzu beiläufig und beliebig auf Ansichten über Modeworte wie „Generation“ einlässt, sondern Lieblingstugenden wie Rechtschaffenheit und Fleiß als ziellose Prinzipienreiterei und Pedanterie auflaufen lässt. Ein Zahnarzt sei erst dann seriös, heißt es am Weihnachtstisch, wenn mindestens ein Porsche auf seinem Parkplatz steht. Danach tauscht man sich über „schaffendes und raffendes Kapital“ aus. Zuvor versteckten alle Onkel ihr wesentliche Weihnachtsgeschenk, einen 50-Euro-Schein, in einem anderen Gegenstand, der nur den eigenen Bildungsdünkel beweist.
Man kann alles „ironisch finden“ oder „witzig meinen“. Der Roman „Weihnachten“ gibt seiner Welt aber die Blöße, ohne über sie aus einer abgesicherten Position zur richten. Und macht dank Paschens Einfallsreichtum, schonungslosem Humor und Gespür für die Absurdität verlogener Sprache sehr viel Spaß.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben