Die Summe näherkommender Jas
Beginnen wir ganz persönlich, mit einem vollmundigen Geständnis: Nicht viele deutschsprachige Lyrikbücher im Jahr überzeugen so rundum wie Mirko Bonnés neue Sammlung mit Gedichten aus den letzten sechs Jahren, die jetzt unter dem Titel „Wimpern und Asche“ erschienen ist. Was man hier zwischen den ― wow! ― leinenbezogenen Buchdeckeln findet, macht vor allem deshalb sehr glücklich, weil es von einer seltenen Geschlossenheit ist, die sich einer genau komponierten Vielfalt der Formen bzw. der optischen Darbietung verdankt. Streng abgemessene Strophen, manchmal gereimt, manchmal kolumnenartig, stehen neben rhapsodischen, rechtsseitig mäandernden Blöcken; verschiedene Arten von Zeileneinzügen gliedern dergestalt, daß die Gedichte mal an die deutsche Klassik, mal an die amerikanische Moderne erinnern; Zyklen zu jeweils sechs oder sieben Gedichten bringen das Buch in eine subtil rhythmisierte Ordnung. Gegen diese scheinbare formale Strenge, die freilich nichts anderes als der souveräne Umgang mit dem eigenen Handwerkszeug ist, arbeitet die unverkrampfte Tonhöhe des Stils, die weder affektiert artifiziell noch allzu kolloquial flapsig daherkommt, sondern sich auf einem Alltag und Kunst angenehm miteinander verschmelzenden Niveau hält.
Mirko Bonné zelebriert eine Aufmerksamkeitskultur, die ihre Energie und existentielle Importanz offenbar großenteils der eigenen Erfahrung entnimmt. Was aber tatsächlich erlebt und was womöglich nur imaginiert ist, muß natürlich letztlich dahingestellt bleiben, es zählt hier vor allem die Haltung den Dingen gegenüber. Sie ist nämlich durchaus ernsthaft und gewichtig, durchlässig für Gefühl und Verstand gleichermaßen, wahrt aber auch eine leicht verschmitzte, ironische Distanz, die ein Abdriften ins zu stark Gefühlsbetonte, Sentimentalische verhindert. Man möchte dies alles ‚maßvoll’ nennen, wenn das Wort nicht längst furchtbar abgedroschen wäre ― darum bietet sich vielleicht eher der Begriff ‚Ausgewogenheit’ an ―: ein genau kalkuliertes Abwägen der Ingredienzen, damit nichts störend originell oder statisch altbekannt wirkt.
Bonné hat dem Band ein schlichtes, dennoch tiefschürfendes Motto vorangestellt: „Das Nein entfernt sich und das Ja kommt näher“ ― in dieser Zeile des leider immer noch völlig unterschätzten und einer größeren Leserschaft unbekannten Kieler Dichters Christian Saalberg (1926-2006) zeigt sich die affirmative Haltung, die Bonné den Dingen gegenüber einnimmt, denn er vertraut den Phänomenen, gibt sich dem Sichtbaren hin, obwohl auch vieles verschwindensmüde und abschiedsträge ist, und macht etwas Außergewöhnliches aus dem Gewöhnlichen, trotz dessen ständiger Bedrohtheit. Wenn es am Ende dann heißt: „Ich zähle und / zähle Asche, zähle Wimpern, Blicke, / Boote, Möwen, ich komme auf nichts [...] // ich zähle, was nicht da ist, zusammen“, muß man das in erster Linie als ein raffiniertes poetologisches Statement über die Ungreifbarkeit der Dinge durch das Gedicht verstehen; denn angesichts der Vielfalt, die hier de facto zusammengetragen wurde, handelt es sich doch wohl um eine süffisante Untertreibung.
Sommer, Frühling, Winter, Herbst,
durch Jahreszeiten lief ich ihm nach,
dem Hund über die Gleisschwellen,
und ich glaube, so fanden sie mich,
Verse: Ich schoss Schottersteine
und lief, bis wo sie liegenblieben,
um sie weiterzukicken, Jahre,
Wochen, Stunden verspielt.
In Bonnés Gedichten ist kein einsamer Spaziergänger retrospektiv durch die Erinnerungen und Zeiten unterwegs. Immer sind Begleiter anwesend, Hölderlin, Schubart, Wollschläger, Saalberg, Melville, Auden, Novalis, Rautenberg, Gryphius und viele andere, doch sie drängen sich nicht in den Vordergrund, stehen nur ermutigend zur Seite. Oft verschwimmt die Grenze zwischen Eigen- und Fremderfahrung, wird überhaupt bedeutungslos, weil das Wesentliche immer aktuell bleibt, es gebärdet sich allerdings nie als der offenbar von vielen Kritikern so gefürchtete Bildungssschmuck, denn er wird nicht offen zur Schau getragen, sondern klug eingeflochten, als ein unabdingbarer Bestandteil des Gedichts, so daß niemand verschreckt sein muß, der über das gewisse für die Lyrik ohnehin notwendige Sensorium verfügt.
Wo Land finden, wie drei Schritt
weit Einfällen folgen, wenn zurück-
mündet in die Schuhspitzen der Meridian.
Die Antwort darauf gibt ein Zwischentitel, Imperativ und Feststellung zugleich: „Ausschau nach allem“. Die Jahreszeiten, die Natur samt Wolken und Tieren, die Alster mit ihren Nebenflüßchen finden ebenso Erwähnung wie die Landschaften Europas, Amerikas, Australiens; denn sie sind Umgebnis und deshalb kaum wegzudenken aus unserer sinnlichen Wahrnehmung, die mehr umfaßt als die bloße Idyllensuche ― so ist beispielsweise der Müll der Zivilisationen nahezu allgegenwärtig, ja eines der stärksten Gedichte des Bandes („Symi“) beschäftigt sich allein mit ihm, eine monothematische Anklage, die weder klagt noch zeigefingerhaft politisch ist, nur registriert:
Auf dem
griechischen Eiland Symi nur
wenige Seemeilen vor der türkischen
Küste steht in der Oberstadt des Fischerhafens
ein Haus, dessen Dach, Innenwände und Fuß-
böden hat ein das aufgegebene Gemäuer
nach und nach einnehmender Baum
gesprengt.Wild, tief dunkelgrün,
wächst die Feige auf Unrat und Müll,
hineingeworfen zu den Fenster-
löchern ― wie in einen
Schacht, in dem
Verfallenmüssen und
Leere zusammenfinden und
Zeit und Tod vergehen vor lauter Leben.
Schön, daß sich viele Gedichte dem Zufall der Gelegenheit verdanken, ihre Summe aber gar nicht willkürlich wirkt, weil die Art, sich den Dingen anzunähern und sie zu beschreiben, stets dieselbe bleibt. Darum scheint dringlich und neu, was im Grunde alltäglich ist, seien es nun die Stadtansichten mit ihren Türmen, Kränen, Brücken, Schottergleisen; die Wolken, Bienen, Flüsse, Vögel; oder die Handtaschen, Oboen und Stühle. Nicht die Objekte selbst, sondern der Blickwinkel auf sie überrascht. „Wimpern und Asche“ stellt einige Fragmente der Welt in einer Bücherwunderkammer aus, informativ, ästhetisch befriedigend, spannungsreich.
Tretet ein und staunt!
Anmerkung der Redaktion: Am 13.09. liest Mirco Bonné aus Wimpern und Asche im Haus für Poesie in Berlin, Tom Schulz moderiert.
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