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Kritik

Spricht man in die Leere?

Hamburg

Olga Martynova ist in Russland geboren, wuchs in St. Petersburg auf und lebt seit 1991 in Deutschland. Diese biografische Information ist konstitutiv für das neue Buch von Olga Martynova. In „Über die Dummheit der Stunde“ legt sie eine Sammlung von Essays vor, die aus eigenem Erleben, Wissen, Beobachtungen und Empfinden gespeist und in den letzten rund 20 Jahren entstanden sind, zum Teil bereits verstreut publiziert, zum Teil eigens für dieses Werk geschrieben wurden.

Drei von ihr wie nebenher gemachte Feststellungen sind zentral für ihre Art des Denkens und Arbeitens: 1. „Ich bin nicht schlagfertig“, 2. „Ich brauche Zeit, um nachzudenken“ und 3. „Ich schreibe langsam“. Alle drei hängen zusammen, werden mit einem Hauch des Bedauerns bekannt. Olga Martynova lässt uns an ihren Überlegungen teilhaben, ist dabei niemals eine, die ständig über alles Bescheid weiß. Offen und neugierig, vor allem aber ohne vorschnelle Urteile nähert sie sich ihren Themen, stellt sich und anderen Menschen Fragen, zeigt Interesse, hört achtsam zu und sieht lieber zweimal hin, ehe sie sich ihre Meinung bildet. Und sie weiß, dass es oftmals nicht die eine richtige Antwort oder Erkenntnis gibt, sondern dass mehrere Wahrheiten nebeneinander stehen und gleich wahr sein können.

Das Buch beginnt mit Gedanken über Identität und Zugehörigkeit, die sie auch in späteren Essays   aufgreift. So werde sie immer wieder in Deutschland mit der Frage konfrontiert: „Where are you from?“. Und sie antwortete stets, dass sie aus Russland komme. Erst als sie Jerusalem besucht, erwidert sie, dass sie aus Deutschland sei und den Audioguide in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in deutscher Sprache haben wolle, was jedoch

nichts damit zu tun hat, dass ich nun schon lange in Deutschland lebe, sondern damit, dass ich mich vor der geschichtlichen Verantwortung nicht drücken will, die ich zusammen mit der Wahl der deutschen Sprache für meine Romane auf mich genommen habe. Ich will nicht sagen: „Ich habe damit nichts zu tun.“ Wie ich auch nie über russische Angelegenheiten sage: „Ich habe damit nichts zu tun.“

In einem anderen Essay schreibt sie:

Ich habe Russland als erwachsener Mensch verlassen und hege, obwohl ich mich in beiden Welten zu Hause fühle, keine Ansprüche auf bedingungslose Zugehörigkeit zu einer der Welten und vertrete nur mich selbst. Die Frage, die mich jedoch interessiert: Ist das eine Illusion? Ich habe immer behauptet, meine Identitäten würden ganz friedlich in mir zusammenleben. Aber die Welt ist heute alles andere als friedlich gestimmt. Manchmal führt ein bisschen mehr Information über einen Umstand zu einem großen Unterschied in seiner Bewertung.

Sie empfindet sich selbst oft als „ein exotisches Objekt der Neugier“, das immer wieder zu Russland gefragt würde und wünscht sich stattdessen, als langjährige Bürgerin des Landes zu Angelegenheiten Deutschlands befragt zu werden. Als sie auf einem Podium mit anderen über Europa diskutieren soll, erlebt sie Ausgrenzung:

Bald merke ich, dass etwas mich von den anderen gravierend unterscheidet … das mir anfangs absolut nicht klar war … Ihrer Meinung nach bin ich die Einzige in der Runde, die nicht zu den Europäern gehört und hier eigentlich nichts zu suchen hat, außer dem Rollenfach der dankbar Nickenden.

Es ist eine geradezu typische Einwanderungsgeschichte, die Olga Martynova sprachbewusst thematisiert und vermutlich in Europa, Russland oder anderswo auf ähnliche Weise erlebt werden kann, nämlich überall dort, wo sich ein angestammter Chauvinismus Zuwandernden entgegenwälzt, auch jenen, die schon seit vielen Jahren im Land leben und sich hier zu Hause fühlen. Denn was ist das Fremde, was das Eigene? Wer gehört dazu, wer nicht und warum? Die Autorin setzt auf ihre Freiheit der Reflexion und der Suche nach Objektivität, die sich auch in der Überlegung äußert, wo und wie wir unser „Ich“ und unser „Wir“ verankern wollen.

Obwohl Martynova zu Deutschland gefragt werden will und zu ihrer neuen Heimat gewiss viel zu sagen hätte, stellt sie in den fünf Kapiteln ihres Buchs mehrfach ihr Herkunftsland, die ehemalige Sowjetunion und einige ihrer Nachfolgestaaten, in den Mittelpunkt. Olga Martynova wird zur Fremdenführerin durch die russischsprachige Literatur, lässt uns an Lektüreerlebnissen teilhaben und erinnert an Leben und Wirken von ihr geschätzter DichterInnen im totalitären System der Sowjetunion. Sie erweist sich als politische Denkerin, die historische Fäden aufgreift und in ihren Überlegungen präsent hält, die Zeit des Kommunismus und die „Stilistik“ der Propaganda erinnert und mit der Nachwendezeit vergleicht, die sie als „Belle Epoque“ der Illusionen ihrer Generation bezeichnet. Martynova ist stets eine hellwach Reflektierende, die an den heutigen politischen Entwicklungen verzweifelt. Doch nicht nur an diesen. Sie beklagt das fehlende Geschichtsbewusstsein der jüngeren Generationen, die Tendenz zur Vereinfachung statt zur Verfeinerung von Argumenten sowie die zunehmende Primitivität, auch jene innerhalb der literarischen Gemeinschaft.

Mit Nationalismus und irrationalen Mythologien kommt man nie zu Freiheit und Demokratie

schreibt Martynova in ihren Zeitbetrachtungen. Sie zeigt Zumutungen an SchriftstellerInnen auf, mit Texten auf tagesaktuelle Ereignisse zu reagieren, und die oft geäußerte Forderung nach der politischen Aktualität des künstlerischen Schaffens, die etwa darauf ziele, Literatur zur Serviceleistung zu degradieren. Dagegen stellt sie das Bestehen auf die künstlerische Freiheit von Individuen. Sie beklagt die allgegenwärtige Empörungskultur und dass nun fast alle Gespräche in politische Themen münden würden. Und sie setzt zum Lob des früheren Smalltalks an, der eine vorsichtige Bewegung zueinander erlaubte, während er heute zunehmend politisiert werde, was nie der Wahrheit diene, sondern

wie jeder Klatsch, nur zur Bestätigung (führe), dass „wir“ gute, ehrliche, progressive Menschen sind und „sie“ nicht.

In anderen Essays wiederum lässt sie Reisen nach Helsinki, Klagenfurt oder Lissabon Revue passieren, russische Kochrezepte einfließen oder bedauert die „Segnungen“ der heutigen Kommunikationsindustrie, die keinerlei produktive Langeweile mehr zulasse. Im letzten Kapitel schließlich nimmt sie uns auf ihre Reise auf die Krim mit und lässt uns begreifen, wie uneindeutig die Situation der Menschen, ihr Zugehörigkeitsgefühl im ukrainisch-russischen Konflikt und wie schwierig jede Parteinahme ist.

Das Lesen dieses Buch ist ein lehrreiches intellektuelles und poetisches Vergnügen. Martynova grundiert ihre Überlegungen mit melancholischem Pessimismus, überrascht mit Sichtweisen und erfreut mit der sprachlichen Sorgfalt ihrer Ausführungen. Sie versteckt sich nicht hinter Phrasen, sondern führt vor, dass und wie alle Ein- und Ansichten von ihr persönlich erfahren, durchlitten und in einem langsamen Prozess zum Sprechen gebracht wurden. Olga Martynova setzt sich aus, tritt dann einen Schritt zurück, überlegt und nimmt persönlich Stellung, relativiert, vergleicht, kommentiert und lässt Raum für Zweifel und das eigene Ungenügen, etwa wenn sie erkennt, dass sie etwas noch nicht beschreiben kann, weil sie mehr Zeit dafür brauche. Nicht zuletzt ist dieses Buch ein leidenschaftliches Plädoyer für das Lesen. Unsere ganze Würde bestehe im Denken, das die einzige Chance des Menschen sei, sich zu individualisieren und zu entwickeln. Einem Buch zu folgen, dass wir nicht ganz begreifen, würde unsere Denkmuskel trainieren, so Martynova, die dazu anregt, sich vor Urteilen und Verurteilungen von kategorischen Schemata zu befreien.

Ich bin fest davon überzeugt, dass Kunst (gleich, ob wir sie produzieren oder rezipieren) unsere Hoffnung auf Persönlichkeit ist. …

Man könnte das Training der Denkmuskel zum Beispiel gleich mit diesem eindrücklichen Buch beginnen!

 

 

 

Olga Martynova
Über die Dummheit der Stunde
S. Fischer
2018 · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-10-002433-6

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