Plötzliche „Plastikleerguttraurigkeit“
Vom Genie verlangt Friedrich Nietzsche zweierlei: Dankbarkeit und Reinlichkeit. Nun ist es mit dem Genie etwas diffizil. Als Stephan George, der Dichter mit den markantesten Gesichtszügen aller Zeiten seit Dante (selbst auch Dante-Double), gefragt wurde, woher es, das Genie, kommt, antwortete der Meister dem Epheben barsch: man frage nicht danach.
Raimund Petschners Beschreibungen, zumeist mit Freude an der Epiphanie niedergeschrieben, thematisieren das Genie nicht direkt, es ist aber mitnotiert. Petschner gehört, anders als andere Essayisten, hinzugerechnet der oben erwähnte berühmteste Philosoph Sachsen-Anhalts, nicht zu den Namedroppern. Mit Nietzsche verbindet Petschner die Hinwendung zum Pathos der Distanz. Das betrifft Mitmenschen nicht weniger als den Blick in die eigene Vergangenheit.Eine der eindrücklichsten dieser Erinnerungen ist einem Vortragskünstler gewidmet:
„Von heute, zweitausendacht, ist es nahezu fünfzig Jahre her, daß ein bestimmter blauschwarz schillernder Käfer überwimmelt und schon halb zerfressen im Ameisenhaufen lag, in dem dichten Wäldchen beim Internat …“
Dieser tote Käfer spiegelt sich im (namenlosen) Rezitator. Es wäre zu wenig, dieses Verfahren als metonymisch zu bezeichnen. So technisch-formalistisch ist Petschner nicht. Er spart nicht aus, sondern beschreibt sparsam. Das folgt keinem Kalkül oder einer bloß angelesenenoder schreibgeschulten Literarisierungsstrategie; bleibt also ein Genieverdacht: Von Form weiß Petschner wenig, und trotzdem gelingt ihm alles. Selbst dort, wo, etwas bemüht, der Titel in Fettschrift unter dem Fließtext landet. Und ein Prosagedicht („poèmes en prose“ verspricht der zackige Klappentext) wird man vergeblich suchen, dennoch gibt es keine halbherzige Zeile.
Den inneren Stau postmoderner Verfasstheit („Plastikleerguttraurigkeit“) beschreibt die Notiz „Probe am Vormittag“, wo ganz offenbar kein lyrisches Ich, sondern ein Autobiograph einem flaschensammelnden Clochard am liebsten ins Angesicht wutstammelte:
„Wenn du das Industrieprinzip so wenig begreifst, hau ab, los, mach anderen Platz.“
Nur Schildbürger glauben an ein Geheimrezept für poetische Dringlichkeit; ein gewisses Maß an autodestruktivem Humor gehört aber wohl dazu. Zur Kompromisslosigkeit von Schreibenden muss deren Glück treten, einen Verlag zu finden, der einem unverwässerten Text den passenden Rahmen gibt. Die in Berlin ansässige PalmArtPress ist zur Veröffentlichung dieser Sammlung atmosphärischer Skizzen und elegisch gefärbter Einsichten unbedingt zu beglückwünschen.
„Plötzlich und unerwartet“ ist eine dieser Miniaturen überschrieben. Sie zeigt den Urheber solcher Texte als feinnervigen Melancholiker: „Brauchst du vielleicht noch ’ne Extraeinladung? / Muß ich dir ’ne Extraeinladung schicken? […] Die Tonfallerinnerung: sie ist so genau, als sei Gestern heute und morgen.“–Kurze Entfernung aus dem Gespräch fuchtelt nicht um sich mit große Namen oder sophistisch-urbanen Gesten; hier geht es – Medienpädagoginnen und McLuhan-Jünger werden sich möglicherweise sträuben – um ´authentische Erfahrung´, Alltagserleuchtungen.
Petschners Ideal ist der poète maudit, also das Gegenteil des Freizeitdichters in verbeamteter oder sonst gesicherter Stellung. Er hat eine Lehrerstelle frühzeitig aufgegeben. Davon ist ganz offenbar eine Aversion gegen moralinsaure Literaturersatzhandlungen geblieben. Die Titel in Kurze Entfernung aus dem Gespräch zelebrieren die Lust am Demontieren von Sprichwörtern und Redewendungen. Bildgebend werden nicht die mit Köpfen gemachten Nägel, sondern
„die im Raum verspritzen kleinen, groben Splitter vom Zehennägelschneiden […] Du räumst den Lebensabfall weg./ Vergänglichkeit, Versinken, Verschwinden in der Jahrundaberjahrmillionennacht übt manchmal einen Sog aus – aber das Ertrinken im Lebensabfall wäre, so scheint es wenigstens, der wahre Schrecken und etwas völlig anderes.“
– Brave Ironiker schließen das Buch an dieser Stelle; warten auf bessere Zeiten. Raimund Petschner ist ein unsentimentaler Postmodernist. Heute gelten solche Flaneure als Nerds. Schon Wolfgang Koeppen, dessen Petschner sich dankbar erinnert, schadete dieser Stempel jedoch nicht.
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