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Kritik

Jedes Gedicht ein Augenblick

Hamburg

Nach Weinsberg fahren/ Pojechac do Weinsberg heißt der zweisprachige, deutsch-polnische Lyrikband der Autorin und langjährigen Mitarbeiterin des Darmstädter Poleninstituts Renate Schmidgall.

Pawel Huelle, dem sie in dem Buch das gleichnamige Gedicht gewidmet hat, schreibt zu ihren Gedichten in einem Nachwort:

Spiegelt sich in guten Gedichten doch immer das, was für uns wesentlich und zugleich universell ist: das Geheimnis der Vergänglichkeit, die Freude über die Liebe, die Bitterkeit und Melancholie des Scheiterns, die Bilder unserer Reisen, sei es eine reale Reise auf die Krim oder eine Reise in die Region der Kindheit.
All das ist in den Gedichten von Renate Schmidgall für mich enthalten. Wenn ich sie in polnischer Übersetzung lese, spüre ich paradoxerweise ihre natürliche Verbindung zu den besten Dichtern meiner Sprache: Kochanowski, Mickiewicz, Poswiatowska, Szymborska.

Dies ist allerdings wenig erstaunlich, da Renate Schmidgall seit den 80iger Jahren polnische Lyrik übersetzt und lektoriert, u.a. das Panorama von Karl Dedecius, Gedichte von Andrzej Stasiuk (der als Lyriker debütierte), von Adam Zagajewski und von der bereits erwähnten Wisława Szymborska. Dafür hat sie neben anderen Preisen 2009 den Karl Dedecius Preis und 2017 den Johann-Heinrich-Voß-Preis erhalten.

Doch nun von der Übersetzerin zu der Autorin. Eigentlich könnte jedes Gedicht / ‚Augenblick‘ heißen, lautet eine Zeile von Szymborska und diese Feststellung könnte man auch auf die Gedichte von Renate Schmidgall beziehen. Denn oft sind es kurze, luftige Augenblicke, die festgehalten werden.

Der Mühe wert

Ein Geschenk fürs Kind gefunden -
und das Gedicht
das die Nacht verschüttet hatte

 

Stilleben mit Katze

Die Katze am Fenster, neben dem Strauß
roter Rosen, der das leuchtende Haus
in Albaicín noch weißer macht,

die Katze weiß nicht, dass sie ein Teil
dieser Schönheit ist. Nichts fehlt ihr,
wenn sie döst in der Mittagssonne.

Reisen in die Kindheit. Vieles kann Erinnerungen hervorrufen. Diese sind oft in Naturbetrachtungen, in Jahreszeiten eingebettet. Wenige Zeilen geben dem in lakonischer Sprache berichteten Alltäglichem eine überraschende Tiefe.

Donnerstag

Das Brot an seinen Platz, Milch, Sahne, Käse
in den Kühlschrank. Für heute alles da. Die Milch
reicht bis übermorgen. Bevor ich den Einkaufzettel
in den Papierkorb werfe, drehe ich ihn unwillkürlich
um und lese das Zitat von Bruno Schulz, das ich
vor Monaten notiert habe: „An allem schuld
ist der schnelle Zerfall der Zeit.“

Und immer wieder sind es Orte, denen wir in den Gedichten begegnen. Auch in diesem Zusammenhang werden die Vorlieben der Slawistin Renate Schmidgall deutlich. Denn viele Gedichte handeln von Reisen in den Osten, beschreiben in poetischen Bildern Moskau, Odessa, Jalta, die Krim.

Die Sehnsucht billig wie Borschtsch
wenn der weiße Vollmond seinen Schein
auf das Schwarze Meer wirft.

Und manchmal ist es eine etwas wehmütige Reise in die Vergangenheit. Wie in dem Gedicht

Odessa, August 1990

Blick auf den Hafen, braungebrannte
Menschen, heiterer als in Moskau, die Treppe
aus Eisensteins Film – und über allem Sommer,

Hunger nach Leben und die Aufregung
hier zu sein, durch die Moldawanka
zu gehen, auf den Spuren von Benja Krik.

In der Abenddämmerung frenetisches
Gezwitscher, Hunderte von Staren,
bevor sie weiter nach Süden flogen.

Ich war fünfunddreißig; ich wusste nicht,
dass es ein Abschiedskonzert war,
dass der Hunger bleiben würde.

Übersetzt haben die Gedichte Jakub Ekier, Slawa Lisiecka, Joanna Manc, Tomasz Ososinski und Marek Sniecinski. Mit ihrem Blick in verschiedene Himmelrichtungen, ihren Bezügen zur polnischen Literatur hat Renate Schmidgall einen eigenen literarischen Ton entwickelt. Gleichzeitig ist das Buch ein schönes Beispiel für eine länderübergreifende Zusammenarbeit.

Renate Schmidgall
Pojechac do Weinsberg / Nach Weinsberg fahren
Biblioteka Telgte, Poznan 2018
2018 · 128 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978 83 61845 26 3

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