"Wie kann man nicht an die Zukunft glauben, wenn man von der Sterblichkeit weiß?"
Deutscher Buchpreis 2017
Ein groß angelegtes Brüsselbuch von Robert Menasse, dem "Klassensprecher der österreichischen Intellektuellen"1 – der Klappentext spricht gar von "seinem großen europäischen Roman" – ist derzeit, lassen wir uns sagen, nominiert für irgendwas Wichtiges. Nach eingehender Lektüre können wir festhalten:
Erstens: Eine neue Idee zum "großen europäischen Roman" – als einem klar abgegrenzten Gegenentwurf zur great american novel; einem konkurrenzfähigen neuen Konzept des Ineinsfallens von Form, Inhalt und Ideologem – hat Menasse da nicht ausgerollt. (Man wäre ja auch von sich aus gar nicht auf die Idee gekommen, so groß und nassforsch nachzufragen, aber wenn der Werbetext durchaus insistiert …) Ein dicht gewobenes Großstadtbuch hingegen durchaus, herschreibbar von mehreren existenten europäischen Romantraditionen; vom Leserhythmus und von der Struktur her vielleicht eher eine Sammlung von elf verknüpften Novellen als ein einzelner Roman (wobei bei Großprosa dieses Zuschnitts die Gattungsnamen ohnehin bloß noch von Interesse für die Buchhandelsketten und ihre Lageristen sind).
Zweitens: Dass es in diesem Text, der wie gesagt kein "großer europäischer Roman" ist, um Europa dann doch sehr wohl geht, um Europa nämlich als Idee und Häufchen Elend Tatsachen, Europa als Geschichte und Gegenwart, als individuell bedeutungsgeladene Biographie und als Bündel von soziographischen Daten zu einem gegebenen Moment. Kaum überrascht sie uns, die sozusagen didaktische, die anscheinend aufs podiumsdiskussionstaugliche Argument abzielende Gegenüberstellung des Allgemeinen und des Besonderen. Sie ist narrativ festgemacht als ebensolches Gegenüber und Ineins von synthetischen und analytischen Erzählsträngen; als Erzählerblick auf ein berührungsarmes Nebeneinanderleben in durchgängig wiedererkennbaren Strukturen, auf engem Raum – im Prolog etwa beginnen die Geschichten einiger unserer Protagonisten, kann man sagen, in Blickweite voneinander (plus-minus ein paar sichtfeldblockierende Mauern, klar) … Und zumindest darin, dass das Wort Protagonisten hier eindeutig und fett im Plural steht, und welcher Art die zur Verfügung stehenden Subjektivitäten – wieder Plural – sind, steht "Die Hauptstadt" dann doch der great american Dingsda scharf gegenüber: Sozietät statt rugged individual und so.
Drittens: Dass des stetig am Laufen gehaltenen Interpretationsspiels zwischen den Zeilen hier ein wenig gar dick aufgetragen ist. Die multiple Aufladung der diversen Erzählobjekte, MacGuffins und Schauplätze mit Widersprüchlichem gehört, klar und in Ordnung, zum Standardprogramm ausgedehnter und nichttrivialer Erzählprosa; aber wenn wir bis in die Verzweigungen dieser Widersprüche das muntere "Einerseits-Andererseits" der Staatsbürgerkundelehrer nachhallen hören – wenn, was die Gleichberechtigung aller menschlichen Erfahrungen auch im wohlorganisierten Erzählgang signalisieren sollte, selbst die Richtung der Erzählgangs bestimmt – dann dürfen wir uns beschweren, dass das Ergebnis allzu erkennbar didaktisch und konstruiert ist. Beispielsweise die Frage, ob jenes freilaufende Schwein, mit dem das Buch beginnt, nun als Metapher für fortdauernd ungeregelte Nischenexistenzen im Angesicht der Bürokratien zu lesen ist, welche so sehr zum heldenhaften Scheitern verurteilt sind wie die Versuche eines Hausschweins, in der Großstadt auf sich gestellt zu überleben … oder doch vielmehr für den Umstand, dass innerhalb der Logik der EU-Nomenklaturen schwer zu fassen zu bekommen ist, worin der Konstruktionsfehler der bestehenden europäischen Gesellschaft besteht? Ist jenes Schwein die Menge der sozusagen unkoscheren Erinnerungen jenes Shoah-Überlebenden, mit dessen Auszug – Exodus – ins Altersheim das Buch beginnt? Oder stellt es uns im Gegenteil den unausrottbaren Antisemitismus dar, die stets vorhandene Option aufs Pogrom, den/die die bürgerliche Öffentlichkeit nicht und nicht aus ihren Nischen, aus den Untergründen der Städte und Seelen (der Partikularien gegens Ideal, und so) ausgetrieben bekommt? Ist das Schwein am Ende die unterschwellige Feindseligkeit des "christlichen Abendlands" gegen auch die best "integrierten" Muslime? Schlicht "Land gegen Stadt"? … So ähnlich wie mit jenem Schwein geht es uns mit allzu vielen Details in "die Hauptstadt": Zuerst mal wollen sie was bedeuten, dann will uns ihre multiple Lesbarkeit suggerieren, es gehe da vielgestaltig zu und es komme auf eine Entscheidung an, die der Leser zu treffen habe; aber schließlich läuft jede mögliche Interpretationsleistung darauf hinaus, Geschichte und Gegenwart Europas durch die Brille jener bekannten erz-liberalen Diskurse von Gesellschaft, Staat und Individuum zu sehen. Innerhalb jener Diskurse darf dann freilich die linksliberale oder die neoliberale, die sozialdemokratische oder die wertkonservative Haltung eingenommen werden. … Auch, wenn Menasse das alles absichtsvoll als Kritik an der Sachzwanglogik der europäischen Integration ersonnen hat, ist es zwar klug und aufwändig, aber eben doch merklich konstruiert.
Viertens: Zu den Dingen, die ich nach Lektüre von "Die Hauptstadt" sicher weiß, ist, dass Brüssel im Speziellen und Europa im Allgemeinen sich ums gute Essen drehen.
Fünftens: Irgendwas fehlt mir in den vielen Beschreibungen des Innenlebens der Leute in den Nomenklaturen; was Hoffnung oder "autonomer Gedanke" sein soll, schwebt jeweils ein wenig extrinsisch über jenen Figuren, die da hoffen oder autonom denken. Irgendwas erscheint genau dann surreal, wenn es um Meetings und Uhrzeiten geht … warum? Nämlich quer durch die Handlungsstränge?
Sechstens: Ja doch, Europa. Menasses Buch wird der Hauptstadt – und dem fragwürdigen Gebilde, deren Hauptstadt die Hauptstadt ist – schon gerecht. Ihrer Innenansicht zumindest. Aber nichts anderes hat er sich ja vorgenommen: Wir wissen, dass Menasse weiß, dass wir wissen, dass er den Unterschied zwischen dieser Innenansicht und der Wirklichkeit kennt.
- 1. (C) Johannes Schrettle
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben