„leichter eingefordert als ins Werk gesetzt”
Daß ohne Periodika – eine Struktur von Frage und Antwort, ein Forum, eine Zeitnähe – die Aufklärung nicht recht vorstellbar gewesen wäre, ist ein Gemeinplatz. Während in Zeiten Trumps unklar ist, ob das, was die Aufklärung war und meinte, noch aussichtsreich ist, blieben die Zeitschriften. Etwa Lettre internationale, Schmidt porträtiert die europäische (siehe die Karten mit den Redaktionen im Band) Zeitschrift nun.
Nicht das Uninteressanteste sind dabei die Dokumente zur Gründung, als man formulierte, was man wolle, in mehrseitigen Programmen.
Der Weg der Zeitschrift wird aus der Aufklärung und dem, was folgte, hergeleitet, als deren Teil Internationalisierung, Europäisierung zumindest: „die Nation”, eben noch „»Gral«, das heisst […] individuelle, nicht kommunizierbare Qualität”, dekonstruierend. Über Umwege wie den Prager Frühling gelangt man so klug, aber nicht pathosfrei mit Schmidt quasi in die Redaktion der Zeitschrift.
Es ist ein Beheben nationaler Diskussions-Nabelschau, zum Beispiel dessen, „dass ein Essay von »St. George« (d.i. Orwell, M.H.) zwölf […] Jahre nach seinem Bekanntwerden an so exponierter Stelle (d.i. die New York Times, M.H.) noch nicht in Frankreich erschienen war”, wobei die Lettre natürlich davon je auch profitierten: den Text „mit einem kleinen, verschämten »1972« und einem Verweis auf die NY Times versehen” drucken konnten, als unveröffentlicht („inédit”)..: „Dieser Unzulänglichkeit, die mutatis mutandis auch für die meisten anderen westeuropäischen Öffentlichkeiten jener Jahre zu diagnostizieren wäre”, war, wo man ansetzte: wider „nationale Borniertheit und Selbstgenügsamkeit”.
Was das im Konkreten bedeutet, zeigt etwa der Export eben Orwells bzw. seine Rezeption im damals noch existenten Ostblock, „erst Orwells Beschreibung der Grammatik des »Newspeak« in 1984 habe es ihm ermöglicht, das Gefühl seines Ekels und der Erschöpfung präziser zu fassen [,] und hinter dem offiziellen Jargon eine Operation zu erkennen, die es auf die Zerstörung der Sprache als Werkzeug des Denkens abgesehen habe”, so Šimecka.
Hoher Anspruch war dabei anders als bei vielen Projekten keine Hürde, man folgte der Maxime, daß „man klugen Menschen viel zutrauen könne, sie aber nicht über Gebühr langweilen dürfe”. Dies und die Arbeit an einem „europäischen Zeitschriftennetzwerk[s]” ergab die Zeitschrift.
Schön. So kam es aber natürlich nicht ganz, spätestens, als man redaktions- und nationenübergreifend arbeitete, also ein zentrales Anliegen verwirklichte, das just nicht so einfach universalisierbar sein sollte:
„Bereits Anfang 1990, als die Belgrader Lettre-Beilage einige Male erschienen war und weitere Editionen ihre Veröffentlichung vorbereiteten, hatte sich gezeigt, welch hohe Anforderungen Liehms Zeitschriften-Modell an alle Beteiligten stellte. Dabei ging es zunächst noch nicht um die politischen Differenzen, die später zu Tage traten […], sondern um »Handwerkliches«: Liehm hatte den Eindruck gewonnen, die Belgrader Redaktion verstehe die Pariser Lettre als eine Art Steinbruch, aus dem ad libitum die Artikel der bekanntesten Autoren entnommen werden könnten. Das Ergebnis sei dann jedoch keineswegs, wofür Lettre stehe, sondern eine »poubelle à textes«, eine Texthalde, wie er unmittelbar nach dem ersten Heft irritiert nach Belgrad geschrieben hatte.”
Und dann – folgt wenig, jedenfalls die Studie betreffend. Die Geschichte ist aus, der Ausblick angesichts diverser Krisen schwierig, ob die Zeitschrift selbst der Sprit noch da ist oder man sich und einander kreuz und quer Mainstream gewordene Exdissidenten und die Provokateure des letzten Jahrhunderts ausborgt, ob das Internet andere Foren biete, alles offen.
Alles in allem ist das die Schwäche des Buches, es ist mutlos. Es begeistert sich für den Mut derer, die aufbrachen, aber man merkt ihn dem, der ihn verzeichnet, selten an.
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben