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Kritik

Ich war kurz weg

Hamburg

„Ich versuche, nicht an die Geschichte zu denken, die sie mir gerade erzählt hat“, teilt uns die Ich-Erzählerin in „Vierzig Quadratzentimeter“ mit – und streift doch, während sie um elf Uhr abends durch Buenos Aires irrt, um eine geöffnete Apotheke zu finden, immer wieder genau das, woran sie auf keinen Fall denken will. In einem weiteren Text aus Samanta Schweblins Erzählband Sieben leere Häuser tritt eine Frau mit nassen Haaren und nur mit einem Bademantel bekleidet auf die Straße, ganz so, als könne man mal eben für ein paar Minuten aus dem eigenen Leben verschwinden. „Ich denke an meine Schwester, an das, was meine Schwester macht, und habe Lust, es jemandem zu erzählen“, sagt sie. Tatsächlich wird sie auf ihrem nächtlichen Streifzug einen Gesprächspartner finden – von ihrer Schwester jedoch erfahren wir so gut wie nichts.

Und selbst wenn das, was sich in Erinnerungen oder Nebensätzen andeutet, irgendwann ausgesprochen wird, blicken wir zumeist nur auf eine weitere Leerstelle. Das mag zunächst irritieren. Doch was Schweblins Texte ausmacht, ist genau dieser düster-traumwandlerische Nebel, aus dem ihre Figuren auftauchen und in dem sie wieder verschwinden, als würden sie sich für Momente selbst vergessen. Vergleiche mit den großen argentinischen Schriftstellern Julio Cortázar und Adolfo Bioy Casares, aber auch mit dem Neo-Noir-Filmemacher David Lynch haben ihr diese literarischen Wanderungen auf dem schmalen Grat des Halbbewussten eingetragen. 1978 wurde die Autorin in Buenos Aires geboren, inzwischen lebt und arbeitet sie in Berlin. Vor drei Jahren gewann sie mit „Siete casas vacías“ den hochdotierten Premio Internacional de Narrativa Breve. Ein solcher Preis weckt hohe Erwartungen; ganz erfüllen kann das nun ins Deutsche übertragene Werk sie nicht. Zwar ist Schweblins Talent, aus alltäglichen Begebenheiten eine unterschwellig bedrohliche Atmosphäre zu kreieren, durch scheinbar banale Dialoge eine irrationale, manchmal absurde Ebene schimmern zu lassen, in allen Texten spürbar. Gerade die kürzeren aber schaffen es nicht immer, diese Spannung auch zu halten – ist die typische Schweblin-Atmosphäre einmal etabliert, zerfasern sie ins Beliebige oder brechen unvermittelt ab.

Bravourös gelungen ist hingegen das lange Herzstück des Bandes, „Die Höhlenatmung“. Eine alte Frau lebt mit ihrem Ehemann, dessen Namen sie nicht nennt oder den sie nicht mehr erinnert, in einem Viertel von Buenos Aires, das allmählich verkommt. Sie packt Kisten, um sich auf das eigene Verschwinden vorzubereiten. Die Leerstelle, so der Unterton, ist hier der Tod, sowohl der vergangene als auch der bevorstehende. Derweil verdichten sich diverse vage Bedrohungen – ob real oder imaginär, bleibt lange offen. Hämmern wirklich nachts herumlungernde Jugendliche an Lolas Zaun? Kriecht der Nachbarsjunge unter dem Maschendraht durch, um ihren Garten umzugraben? Auch ihrem Mann misstraut sie zunehmend. Schenkt er das Kakaopulver, das er immer für ihren verstorbenen Sohn kaufte, seit neuestem dem Nachbarsjungen?

Der Tod des Sohnes, das Kakaopulver, die mysteriösen Nachbarn, der „Zwischenfall im Supermarkt“ – gleich loser Gesteinsbrocken driften Erinnerungsfragmente durch die Leere, die sich in Lolas Hirn ausbreitet wie das Nichts in Fantásien. Auf den Inseln ihrer luziden Momente herrscht Lola unerbittlich, befolgt strikt ihre gewohnten Routinen, auch wenn sie im Gesamtzusammenhang keinen Sinn (mehr) machen. Halt gibt ihr einzig eine Liste, die sie stets bei sich trägt, insbesondere der letzte Punkt: „Sich auf den Tod konzentrieren.“ Leidet Lola an Paranoia? An Alzheimer? Oder ist sie tatsächlich einem Verbrechen auf der Spur? Diagnosen oder Erklärungen spart Schweblin sich,  dafür gelingt es ihr auf unnachahmliche Weise, uns hineinzuziehen in eine nur sporadisch erleuchtete Nacht, in deren dunklen Phasen nicht nur das Abbild der uns umgebenden Wirklichkeit, sondern auch jede Gedankenkette unwiderruflich zerreißt. Der wahre Horror sitzt im Innern, so der verstörende Tenor des Bandes, im fremd gewordenen Ich, im eigenen Atem. Konsequent ist er es, der Lola schließlich unterkriegt, „ein großes prähistorisches Monster, das schmerzhaft von der Mitte ihres Körpers aus auf sie einschlug“.

Samanta Schweblin
Sieben leere Häuser
Suhrkamp
2018 · 150 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42804-7

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