Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Schmerz und Hoffnung: Geschichten aus dem Gefängnis

Die Erzählungen des türkischen Oppositionspolitikers Demirtaş erscheinen auf Deutsch
Hamburg

Seit November 2016 befindet sich Selahattin Demirtaş, einst Co-Chef der linksliberalen HDP, im Hochsicherheitsgefängnis Edirne in Haft. Gegen ihn laufen mehr als hundert Verfahren. Es sind Scheinprozesse, wie sie in der Türkei zur Zeit gegen mehr als zweihunderttausend Menschen geführt werden. Demirtaş galt als Hoffnungsträger der Opposition. Im Sommer 2015 zog seine Partei ins Parlament ein und verhagelte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Mehrheit. Seither versucht dieser, die kleine Partei in die Nähe von Terroristen zu rücken, ließ tausende Parteimitglieder und Unterstützer verhaften und bedroht offen ihre Wähler. 

Demirtaş ist in Haft, weil er sich energisch gegen den Umbau des Landes zur Autokratie engagierte. Aus keinem anderen Grund. Und auch hinter Gittern lässt er sich nicht zum Schweigen bringen. Er unterstützte die Nein-Kampagne gegen die Verfassungsreform im April 2017 und kandidierte 2018 gegen Erdogan um das höchste Amt im Staat. Der Umgang mit Demirtaş zeigt exemplarisch, wie es um die demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen der Türkei steht.

Nun erscheint mit „Morgengrauen“ ein schmales Buch mit Erzählungen, die Demirtaş in der Haft verfasst hat, auf Deutsch – in der Türkei ein Bestseller mit über 200.000 verkauften Exemplaren.

Ein Politiker als Schriftsteller? Einer, der kein Sachbuch, sondern Geschichten verfasst? So nachvollziehbar die Skepsis sein mag – man vergisst sie bereits nach wenigen Seiten. Trotz der oft nicht allzu subtilen politischen Botschaften erweist sich Demirtaş als höchst talentierter und sprachgewandter Erzähler, der den Leser mit wenigen Sätzen tief hineinführt ins Seelenleben seiner Figuren. Dabei sind die autobiografischen Anklänge stets offensichtlich – sei es in einem Brief an seine Mutter, sei es, wenn er aus dem Gefängnis in Edirne erzählt und dort dann das Drama der staatlichen Willkür von Spatzen und Ameisen vorführen lässt, die er im Gefängnishof beobachtet.

Diese Willkür, die letztlich auch ihn selbst erwischt hat, spielt in seinen Texten eine wichtige Rolle – ebenso wie das patriarchalische System, in dem ein Mann und dessen Söhne die Tochter ermorden, nachdem sie vergewaltigt wurde. In „Der Mann in uns“ wird der Mann zum Kriecher mit großer Klappe, während es die Frau ist, die wirklichen Mut beweist. An anderer Stelle gerät eine junge Putzfrau auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit in eine Demonstration, wird von der Polizei verletzt und hinterher im Krankenhaus festgenommen. Dass sie nur zufällig vor Ort war, interessiert niemanden. Auch der Syrienkrieg kommt vor in Form eines Kochs, der von Aleppo nach Hatay kommt, nur um später durch den Krieg dennoch seine Liebsten zu verlieren, während sich auf dem Meer ein kleines Mädchen verzweifelt an seine Mutter klammert, als ihr überfülltes Boot in den Wellen kentert.

Es sind schockierende Erzählungen, weil sie auf jede Distanz verzichten und die Schicksale der Figuren schmerzhaft erlebbar machen, immer in dem Wissen, dass sie exemplarisch sind für das, was unzählige Menschen in der Türkei tagtäglich erleben. In all dem Schmerz findet Demirtaş aber auch Hoffnung und einen sehr warmen Humor, der sagt: Es muss nicht so sein! Die Verhältnisse sind nicht in Stein gemeißelt. Genau das ist letztlich auch sein politischer Antrieb, der ihn hinter Gitter gebracht hat. Dass „Morgengrauen“ so erfolgreich ist und inzwischen in zehn Sprachen übersetzt wurde (deutsche Übersetzung: Gerhard Meier), gibt Demirtaş Recht – und zeigt einmal mehr, dass despotische Regime ihre Gegner zwar einsperren, sie aber niemals mundtot machen können.

Selahattin Demirtas
Morgengrauen / Storys
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Penguin
2018 · 144 Seiten · 16,00 Euro
ISBN:
978-3-328-60061-9

Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge