Sexy Containerschiffe
Der Verfasser dieses Gedichtbands, Sjón, ist mit Romanen und Gedichten in ungefähr eh alle Sprachen übersetzt, ist isländischer PEN-Präsident und war Oscar(!) nominiert als Liedtexter für Björk. Ihre Sorgfalt im Umgang mit seiner poetischen Sprache bezeugen die beiden Übersetzerinnen Tina Flecken & Betty Wahl, indem sie ihre beiden abweichenden Übersetzungen eines überschaubaren poetologischen Dreizeilers nebeneinander stellen und uns so ihre unterschiedlichen "Ohren" oder "Zungenschläge" unaufdringlich zur Kenntnis bringen. Trotzdem liegt zwischen uns und Sjóns "bewegliche berge" ein Hindernis:
Es ist nämlich – zunächst mal unabhängig davon, was sich im Fortgang der abgedruckten Texte daraus entwickelt – nicht von der Hand zu weisen, dass viele Texte des Bandes mit der absichtsvollen Setzung eines ungebrochen "naiven", oder sagen wir eines als "organisch" gedachten Verhältnisses zwischen dem Gedicht und der Natur als seinem Gegenstand operieren … beziehungsweise zwischen einerseits dem Text-Ich in seiner Gegenwart/Gegenwärtigkeit und andererseits einer als Sehnsuchtsort ausgebreiteten (vergangenen? unwirklichen? jedenfalls überhöhten) Heimat. (Die Rede ist, nota bene, von der allgemeinen Stimmung eines solchen Erlösungsbedürfnis bzw. einer solchen Nostalgie – "Jetzt-im-Speziellen, aber Damals-im-Allgemeinen" –, und zum Glück nicht von der Behauptung irgendeiner tatsächlichen Erlösungshoffnung). Der Titel selbst, "bewegliche berge", weist ebenfalls, und in jeder einzelnen seiner möglichen Konkretisierungen, in diese Richtung – der Name kann auf Eisberge, Lavaströme, Inseln, selbst (aus der Nähe und von unten angeschaute) große Schiffe deuten, und stellt damit lauter in Island besonders gehäuft anzutreffende Wirklichkeiten gegen das scheinbare Paradoxon ("normaler") Berge, die "zum Propheten kommen" … "Hier bei uns umfasst Wirklichkeit mehr als anderswo" – ist das so gemeint? Diese Setzung macht die geübte Leserin zeitgenössischer deutschsprachiger Lyrik misstrauisch, und hierin besteht die Hürde, welche das schön gestaltete Buch auf dem Weg in unser Hirn zu nehmen hat …
Es gibt drei Kapitel in "bewegte berge". Das erste umfasst nur Zweizeiler, sechs nummerierte "naturgedichte", die ganz, ganz hinunterkondensiert aufs meditative Genreprinzip sind. Im zweiten Kapitel kommt die oben erwähnte Romantik, das Träumerische, das auf eine antirationale Programmatik hin Ausgerichtete und das manifest Anti-Zweckmäßige ganz zu sich. Es ist fast Arbeit, "dabeizubleiben", wenn z. B. ein
lied aus dem silbernen zeitalter
mit der Doppelzeile beginnt
bevor wir die kniegeige verloren
als wir noch die kontrolle hatten über den zug der schwäne und lachse
… aber wir tun gut daran, uns nicht auszuklinken: Gerade an jenem Lied wird die tatsächliche Programmatik Sjóns, statt der taktisch platzierten, sichtbar – es meinen nämlich die zauberischen Details und märchenumflorten Requisiten je Konkretes, nicht als Metaphern, sondern als ihrerseits aufgeladene Wirklichkeiten. Wirklichkeiten freilich, die wir, nicht-Isländer, in deutlich unter 50% der Fälle kennen und erkennen können, weshalb wir uns dann mit den manifesten Sagen-Haftigkeiten behelfen …
Zwischen Kapitel zwei und drei bildet ein "danse groteque" die Überleitung, der sich zu lesen lohnt: Er beginnt mit der
Leiche einer riesenhaften Frau
die
gefügt aus den Leichen von zwölf Frauen
gerade eben gestorben
jede auf ihre Art
jede an ihrem Ort
jede in ihrem Jahrhundert
ist. Wir lesen, gewitzigt aus dem Vorangegangenen (und nach eine kurzer Wikipedia-Konsultation auf Verdacht hin) ein ernstlich gruseliges Schlüsselpoem über die Geschichte der Besiedelung Islands – jede Leiche ein Jahrhundert …
Damit finden wir uns gut vorbereitet auf Kapitel drei, in dem die heimatliche Naturmetaphorik dann ins Unheim(at)liche, Schmerzhafte, Fleischig-Fleischliche changiert … Eine Stimmung, in der unter anderem ein bemerkenswert erotisches Tagelied gedeihen kann, welchem ausgerechnet vier riesenhafte Ölcontainerschiffe im Eismeer – aufs Glaubhafteste! – als Tertium Sexy Comparationis dienen … Und mit dem pflichtschuldigen Vermerken dieser sehr speziellen, aber sehenswerten Leistung Sjóns können wir es hier dann auch bewenden lassen.
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