Der Mann mit der Fistelstimme
Howard Phillips Lovecraft aus Providence, Rhode Island, muss ein in mancher Hinsicht nicht ganz unsympathischer Eigenbrötler, Quertreiber und Querulant gewesen sein, auch wenn etliche seiner Charakterzüge und Haltungen zutiefst abstoßen. Beeindruckend ist und bleibt auf jeden Fall seine idealistische Einstellung dem Schreiben gegenüber: „Es gibt alles in allem vielleicht sieben Menschen, die meine Arbeit wirklich schätzen, und das ist genug. Ich würde sogar schreiben, wenn ich mein einziger geduldiger Leser wäre, denn das Einzige, was ich erreichen will, ist zweckfreier persönlicher Ausdruck.“ Deshalb hat er seine Erzählungen nur in größter finanzieller Not gegen Honorare bei Zeitschriften eingesandt und sich ansonsten lieber im Amateurjournalismus engagiert, bei dem es seiner Ansicht nach allein um die Texte und nicht um deren Bezahlung ging. Literatur um des Geldes willen war ihm ein Gräuel, viel schlimmer womöglich, als das Grauen, das er in seinen Geschichten heraufbeschwor.
Heute hat Lovecraft eindeutig mehr als sieben Leser, er gilt als einer der wichtigsten Autoren phantastischer Literatur im 20. Jahrhundert und ist mit der Aufnahme in die renommierte Library of America sogar in den Rang eines modernen Klassikers aufgestiegen. Lovecraft war sicherlich alles andere als ein – nach einem Begriff von R.W. Emerson – 'repräsentativer' Mensch, in vielem nur mittelmäßig oder durchschnittlich, kaum herausragend und der eingehenden Betrachtung wert. Aber gerade dieser Umstand macht S.T. Joshis Biographie so interessant. Denn in einigen Belangen war Lovecraft eben doch kein Durchschnittstyp, denn wohl nur ein Sonderling verfaßt im Schulalter die verschiedensten 'wissenschaftlichen' Abhandlungen für selbst herausgegebene Zeitschriften, schreibt mit sechs oder sieben Jahren die „Odyssee“ in 88 Zeilen in jambischen Heptametern mit Binnenreim neu oder verfertigt jahrelang unermüdlich die formal anspruchsvollsten Gedichte ohne inhaltliche Originalität und echtes persönliches Profil.
Überempfindlich reagierte Lovecraft bereits in der Kindheit auf seine Umwelt, ein probeweises Jahr in der öffentlichen Schule endet im Desaster, verschiedene körperliche und psychische Zusammenbrüche folgen, bei Spielgefährten ist der altkluge Junge „äußerst unbeliebt“, er verabscheut Spiele und sportliche Betätigungen und verbringt die Zeit lieber in der häuslichen Bibliothek. Auch wenn Lovecraft in späteren Jahren die eigene Körperlichkeit wohl nicht immer richtig einzuschätzen verstand und sich bei Bedarf in psychosomatische Attacken flüchtete, für seine Umgebung hatte er von Anbeginn ein scharfes Auge. Zahlreiche Briefauszüge erfreuen mit wunderbaren Beschreibungen der Stadt seiner Kindheit und schönen Einsichten in das Wesen der Erinnerung, die Lovecrafts schon früh vorhandene Faszination für die Altertümer seiner Heimatstadt und deren puritanische Herkunft erklären, die im Werk dann eine bedeutende Rolle spielen.
Lovecraft hing Vorstellungen aus längst vergangenen Zeiten an, träumte sich und las sich ins 18. Jahrhundert zurück, und wurde vielleicht auch deshalb nie müde zu betonen, daß er „aus reinblütigem englischem Adel“ stammte. Er machte keinen Hehl daraus, daß ihm die republikanischen Ideen allemal näher standen als die demokratischen Ideale. Obwohl Joshi beteuert, sich nüchtern und ohne „emotionale Empörung“ mit Lovecrafts beinahe omnipräsentem Rassismus auseinanderzusetzen, verhehlt er seinen Abscheu mit deutlichen Worten nicht. Meist ist er indessen bemüht, umsichtig zu urteilen und keine Spekulationen ins Kraut schießen zu lassen. Die Tatsache, daß sowohl Lovecrafts Vater (der an tertiärer Syphilis litt) als auch seine Mutter (nach Nervenzusammenbrüchen) in der Irrenanstalt gestorben sind, daß Lovecraft selbst in einem Haushalt ohne Männer aufwuchs und in sexuellen Belangen überaus prüde war, berücksichtigt Joshi gebührend, ohne in küchenpsychologische Deutungen zu verfallen.
Lovecraft war ein Mann der Widersprüche. Er lachte fast nie laut, konnte aber trotzdem einen literarischen Zirkel bestens unterhalten; er verschlang Pulp-Magazine genauso wie die griechischen und römischen Klassiker; er war ein Muttersöhnchen und lebte nach deren Tod geradezu befreit auf. Absonderliche Träume hat Lovecraft schon früh gehabt, doch für das Grauen in seiner Literatur hat er sie lange nicht genutzt. Denn zunächst wollte Lovecraft Astronomie studieren, erkannte aber, daß vor allem seine mathematischen Fähigkeiten nicht ausreichten, um sich für die Universität zu bewerben. Einem Beruf im bürgerlichen Sinn ist Lovecraft erst nachgegangen, als sein finanzielles Erbe dramatisch schrumpfte und seine bislang gut verdienende Ehefrau Sonia ihren Job verlor. Doch wofür eignet sich ein Mann wie Lovecraft? „Für jemanden ohne Erfahrung scheint es buchstäblich unmöglich, irgendeine Art von Anstellung zu erhalten“, schreibt er in einem Brief vom August 1924. Seine Versuche als Vertreter für ein Inkassounternehmen in New York scheitern kläglich, die Arbeit als Ghostwriter und Bearbeiter fremder Texte wird nur sporadisch entlohnt, einzig die Beiträge für Zeitschriften werfen kleinere Honorare ab.
Man merkt Joshis Biographie auf jeder Seite an, daß sie trotz vieler Vorbehalte beinahe schon ein Liebesdienst ist. Wer nähme es sonst auf sich, mehr als sechzig Seiten lang Lovecrafts frühe Lyrik zu demontieren, bloß um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß nur wenige Verse von Bedeutung sind? Neben interessanten biographischen Details, die ein sehr lebendiges Bild von einem Lovecraft ergeben, der sich im oft ziemlich zerstrittenen Amateurjournalismus engagiert und der mit Freunden bis zu deren totaler Erschöpfung durch die nächtlichen Straßen läuft, um sie auf architektonische Funde aufmerksam zu machen, erhellt Joshi auch die Hintergründe von Lovecrafts Erzählungen, die zum größten Teil nicht als simpler purer Horror abklassifiziert werden können, sondern als philosophische Betrachtungen über den Status des Menschen im Universum, seine Bedeutungslosigkeit und seine seelischen Abgründe interpretiert werden müssen – eine Anschauung, die Lovecraft später als „Kosmizismus“ bezeichnet:
„Theoretisch bin ich ein Agnostiker, aber mangels des Vorhandenseins rationaler Indizien muss ich mich praktisch und vorläufig als Atheist einordnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Theismus wahr ist, ist in meinen Augen so mikroskopisch gering, dass ich ein Pedant und ein Heuchler wäre, wenn ich mich als irgendetwas anderes bezeichnen würde.“
Lovecraft war, ohne der Epigonalität zu verfallen, in seinen frühen Erzählungen in vielen Aspekten Lord Dunsany und Arthur Machen verpflichtet. Joshi führt plastisch vor Augen, wie Lovecraft sich „seine eigene Position zwischen viktorianischer Konventionalität und modernistischem Realismus“ erst allmählich herausarbeitete, und verknüpft dies mit einem kurzen Abriß der Geschichte der Phantastik. Dabei begegnet man Autoren wie Clark Ashton Smith, dessen Gedichte und Prosatexte allemal einen intensiveren Blick verdienen, und unbekannten Größen des Amateurjournalismus wie dem eng mit Lovecraft befreundeten Rheinhard Kleiner. En passant erlebt man auch, daß die Satire eine der Stärken von Lovecraft meistenteils allenfalls mittelmäßiger Lyrik war – so die „großartige Parodie“ (Joshi) von T.S. Eliots „The Waste Land“ unter dem Titel „Waste Paper: A Poem of Profound Insignificance“.
S.T. Joshi ist der führende amerikanische Experte für phantastische Literatur und zweifellos die bedeutendste Koryphäe für Howard Phillips Lovecraft. Daß der kleine Berliner Golkonda Verlag nun die monumentale Biographie, die im Original unter dem Titel „I Am Providence: The Life and Times of H. P. Lovecraft“ (2010) bei der Hippocampus Press in zwei Bänden erschienen ist, in deutscher Übersetzung auf gutem Papier und Druck vorlegt, darf als ein Glücksfall gelten, der auch größeren Verlagshäusern zur Ehre gereicht hätte. Für den Lovecraft-Liebhaber handelt es sich um ein Standardwerk, an dem kein Weg vorbeiführt ― doch auch für alle, die nicht primär an phantastischer Literatur interessiert sind, darf eine dringende Leseempfehlung ausgesprochen werden. Joshis Buch ist, trotz der stupenden Fülle an Informationen, keineswegs trocken oder akademisch überfrachtet. Außerdem entsteht aus der Vielzahl beiläufiger Bemerkungen ein Bild der Ostküste der Vereinigten Staaten am Beginn des 20. Jahrhunderts, das im Hinblick auf aktuelle Problematiken und Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte in den USA aufschlußreich ist. Wer in diesem Jahr nur eine Handvoll Biographien lesen kann oder möchte, sollte diese auf keinen Fall verschmähen. Wir erwarten sehr gespannt den zweiten Band ― dann hoffentlich mit einem bezähmten Druckfehlerteufel!
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