Dass sich in der Sprache der Mensch verrate
Ende Mai erlebte ich in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien die Präsentation der Biographie Wolfgang Hildesheimers (W.H.), die anlässlich seines 100. Geburtstag am 9.12.2016 erschienen ist. Erleben ist das passende Wort für dieses Gespräch des Germanisten Arnulf Knafl mit dem Urheber Stephan Braese, dessen Lehr- und Forschungsgebiet an der RWTH Aachen die europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte ist. Unter reger Beteiligung zweier Kenner Hildesheimers im Publikum wohnte ich einem lebhaften Austausch bei, der um die Entstehungsgeschichte des Buchs und die genutzten Quellen, vor allem aber um das Schaffen des 1991 verstorbenen Autors kreiste, der mittlerweile ein wenig in Vergessenheit zu geraten droht.
Die rund 550 Seiten starke Biographie spürt zunächst autobiographischen Selbstauskünften Hildesheimers nach, der eine tief sitzende Reserve gegen eine Identität als Autobiograph und das Unternehmen einer Autobiographie hatte. Gleichwohl verfasste er zwischen 1953 und 1966 sechs kurze autobiographische Darstellungen, die Einblick in sein ambivalentes Verhältnis zum biographischen Genre und diskrete Auskünfte über jene Erfahrungen geben, die seine künstlerische Arbeit prägten. Aussagekräftiger sind wohl zahlreiche Briefe, die Hildesheimer zeit seines Lebens u.a. an seine Eltern und die um zwei Jahre ältere Schwester Eva schrieb, in denen er ihn Bewegendes, u.a. seine Erfahrungen und Probleme im Deutschland der Nachkriegsjahre, berichtete und reflektierte.
Mit dem zweiten Kapitel setzt die eigentliche Biographie ein, die sich chronologisch dem Leben Hildesheimers, seinem Werden und Sein als Schriftsteller widmet. Väterlicherseits war er Urenkel eines der namhaftesten Rabbiner Mitteleuropas in der Neuzeit, Esriel Hildesheimer, der als einer der geistlichen Führer der jüdischen Orthodoxie im deutschsprachigen Raum galt. Wolfgangs Vater hingegen hatte sich vollständig von den religiösen Traditionen abgewandt, war Chemiker geworden, doch nie assimiliert gewesen, wie W.H. noch Jahrzehnte später betonte. Mütterlicherseits entstammte er einer Hamburger Buchhändlerfamilie, über die er schrieb:
Die Familie meiner Mutter [...] fühlte sich zwar vage jüdisch, ging aber niemals zum Gottesdienst, das tradierte Kulturgut war deutsch, war Literatur, vor allem Schiller.
W.H. erhielt Klavier- und Geigenunterricht, interessierte sich früh fürs Theater und die Oper und wirkte an zahlreichen Schüleraufführungen mit. 1933 übersiedelte die Familie von zionistischen Gedanken geprägt ins damals britische Mandatsgebiet Palästina. Er machte eine Schreinerlehre in Jerusalem, die er 1936 abschloss. Im gleichen Jahr nahmen die Mitglieder der Familie Hildesheimer die palästinensische Staatsangehörigkeit an und verloren dadurch die deutsche. W.H. zog nach seinem Lehrabschluss nach London, wo er Kostümgestaltung und Bühnenbild studierte. Daneben begann er zu malen, eine Leidenschaft, die sein ganzes Leben lang bedeutsam blieb, wenn auch in wechselnder Intensität und durch eine angeborene Rotgrünblindheit gehandicapt. In seinen Bemühungen um den eigenen künstlerischen Ausdruck wird er wiederholt von fundamentalen Zweifeln geplagt und vernichtet in Folge Teile seiner Werke.
1939 setzten nach mehreren Aufenthalten in Cornwall erste literarische Aktivitäten ein. Völlig unzweideutig bekannte er zu der Zeit gegenüber seinen Eltern:
Ich bin der Anschauung nach Surrealist und alles was ich schreibe ist surrealistisch.
W.H. war ein kritischer Beobachter der politischen Entwicklungen in Europa und kehrte 1939 schließlich nach Palästina zurück. 1940 beginnt er seine, ein knappes Jahr dauernde, psychoanalytische Behandlung, deren Bedeutung er noch 1988 herausstrich:
...keines von meinen größeren zusammenhängenden Büchern hätte ich schreiben können ohne die Psychoanalyse.
Von 1943-1946 arbeitete er als Informationsoffizier im britischen Public Information Office in Palästina, hatte privilegierten Zugang zu internationalen Zeitungen und Zeitschriften und stand in engem Kontakt mit zahlreichen britischen Soldaten, die im Zivilberuf Universitätsprofessoren, Maler und Schriftsteller waren. Nachhaltig prägend für seine spätere künstlerische Arbeit war die Erfahrung dieses künstlerischen Milieus als ein konstitutiv „exterritoriales Kulturzentrum“, an dem Araber, Juden, Deutsche und Engländer teilhatten, ein internationales Netzwerk aus Freunden und Kollegen, in dem W.H. sich bewegte. Ab 1944 publizierte er eigene Texte in Zeitschriften, erste Übersetzungen (u.a. Kafka) vom Deutschen ins Englische und rezensierte Bücher. Von 1947-1949 arbeitete W.H. schließlich als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Folgeprozessen, etwa beim Flick-, Ärzte-, IG-Farben-, Generals- und Einsatzgruppenverfahren.
Das Jahr 1950 war für W.H. der eigentliche Beginn seiner literarischen Tätigkeit in deutscher Sprache. Er schrieb „auch“ in deutscher Sprache, verfasste wie beiläufig mehrere Erzählungen, die zunächst verstreut veröffentlicht wurden, ihm rasch enormen, auch ökonomischen Erfolg brachten, und zusammengefasst schließlich 1952 unter dem Titel „Lieblose Legenden“ publiziert wurden. Parallel zu seiner deutschsprachigen Produktion schrieb er Short Stories. Ab 1951 bis zu ihrer Auflösung war er Mitglied der Gruppe 47, einer Gründung um die ehemaligen Wehrmachtsmitglieder Hans Werner Richter und Alfred Andersch. Daraus erwuchsen ihm lebenslange, teils enge Freundschaften zu einzelnen ihrer Mitglieder (Günter Eich, Walter Jens).
1957 verließ W.H. Deutschland und übersiedelte ins schweizerische Poschiavo, lebte einige Jahre auch in einem italienischen Bauernhaus nahe Urbino. Er blieb sein Leben lang ein zwischen den Künsten Zerrissener, ein pessimistischer Optimist und inständig an sich Zweifelnder, der sein Scheitern zumeist mitdachte, und 1953 nach Abschluss der „Funk-Oper“ (Kooperation mit Hans Werner Henze) gestand:
Vielleicht hätte ich Musiker werden sollen, denn die Musik ist diejenige der Künste, die nichts als sich selbst ausdrückt. Zudem bedeutet sie mir mehr als die anderen Künste.
Und in einem Brief an Peter Weiss konstatierte Hildesheimer 1979:
Musik war mir ja immer lebenswichtiger als Literatur (bildende Kunst übrigens auch!).
W.H. etablierte sich in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts jedoch weder als Maler noch als Musiker, sondern rasch als vielseitiger, produktiver Schriftsteller, der zahlreiche Erzählungen, Hörspiele, Dramen, Essays und literarische Grotesken schrieb. Ab 1951 lagen von ihm zudem Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche vor, etwa Nightwood/Nachtgewächs von Djuna Barnes, das 1959 erschien und sein weiteres Schreiben prägte, das zunehmend durch intermediale Bezüge zur Musik grundiert wurde. Bekannt wurde W.H. aber vor allem durch seine großen monologischen Werke „Tynset“, das 1965 im Suhrkamp Verlag erschien, für dessen singulären poetischen Status er 1966 den Büchnerpreis zugesprochen bekam, und das 1973 erschienene „Masante“, das jeder Form des literarischen Realismus eine radikalisierte Absage erteilt und das Ende seiner fiktionalen Produktion markierte. 1977 erschien schließlich seine viel beachtete Biographie über Mozart, der ihm, so bekannte er einmal, neben Shakespeare
am meisten von allen Gestalten der Menschheitsgeschichte bedeutet.
Als zweites großes biographisches Projekt erschien 1981 schließlich „Marbot“, die Biographie eines Mannes, der zwar nicht existierte, „aber mit allen Finessen des biographischen Genres“ von Hildesheimer konstruiert worden war.
W.H. wurde für sein Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 1982 wird er zudem Ehrenbürger des Kantons Graubünden und erhält Schweizer Bürgerrecht, was den Verzicht auf die deutsche Staatsbürgerschaft bedeutet, die er seit 1952 erneut innehatte. Doch Pässe und Staatszugehörigkeiten waren für den Weltbürger ohnehin von geringer Bedeutung. Er bezeichnete sich als Menschen, für den Heimatlosigkeit zum „Quell all [s]einer kreativen Aktivität“ wurde.
Braeses lesenswertes Buch beleuchtet Leben und literarische Tätigkeit Hildesheimers mit reichhaltigem Hintergrundmaterial, das über Einflüsse auf seine Person, ihm wichtige Schriftsteller, die Werkentstehung sowie deren Rezeption Auskunft gibt. Vor allem die „historische Realie der nationalsozialistischen Katastrophe“ war prägend, die zu keinem Zeitpunkt in Hildesheimers Schaffen vergessen ist. Im Zentrum seiner Arbeit stand für ihn immer auch die Frage der Legitimation, als Jude in Deutschland ein deutschsprachiger Schriftsteller zu sein. Zudem würdigt Braese ausführlich den polyglotten, engagierten Intellektuellen Hildesheimer.
Gleichzeitig ist diese eindrückliche Biographie ein Zeitdokument, das einen Eindruck des gesellschaftlichen Klimas der Bundesrepublik der Nachkriegsjahre vermittelt, in dem W.H.s Werke entstanden, einer Aufbau- und Wirtschaftswunderzeit mit der Allgegenwart des Erbes der NS-Vergangenheit, des nach wie vor existierenden Antisemitismus und des unausweichlichen Kontakts mit ehemaligen Sympathisanten und bekennenden Anhängern des Nationalsozialismus.
Besonders hervorzuheben sind für mich aber zwei Teile des Buchs, die eine Grundstimmung erfahrbar machen: Jene Passagen, die eine Ahnung vom Alltag einer gebildeten Bürgerschicht und dem Zusammenleben in Palästina vor Gründung des Staates Israel 1948 vermitteln. Und jene, die von den Kriegsverbrecherprozessen und der Arbeit der Simultandolmetscher handeln und der Frage, wie man das Gehörte aushalten könne. Ein Kollege Hildesheimers beschrieb die Tätigkeit des simultanen Übersetzens als ein extrem intensives Fokussieren, bei dem sich der Dolmetscher ausschließlich auf die Syntax konzentriere und alles andere ausschalten müsse, ein derart intensives Klammern an den Wortlaut, dass man den Inhalt darüber nicht mitbekomme. Das Ungeheuerliche des Gehörten kommt allerdings später, manchmal erst nach Jahrzehnten wieder hoch – für Hildesheimer wurde es zu einem Hallraum, in den er einige seiner Werke schrieb.
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