Raffiniert uneindeutig
Dass Sudabeh Mohafez, die vor allem Erzählbände und Romanveröffentlichungen vorzuweisen hat, sich nach dem Erfolg ihres "Zehn-Zeilen-Buches" im Jahr 2010, welches in der edition AZUR nun bereits in zweiter Auflage vorliegt, auch in Zukunft mit dem Schreiben von Miniaturen befassen würde, verwundert kaum. So ist es nichts als konsequent, dass die Autorin nun den Schritt tut, die kleine und die große Form miteinander zu verbinden. Mit bewundernswerter Leichtigkeit scheint sie das in ihren Texten zu realisieren.
Mit der Mohafez eigenen poetischen Kühle und Klarheit vollzieht sich in erneut stets zehnzeiligen Kapiteln die – ja soll man sagen: Handlung? Denn im eigentlichen Sinne erzählende Prosa ist das nicht, was sich in den drei Mikroromanen "Das eigenartige Haus", "Kitsune" und "In der Ferne die Felsen" dem Leser darbietet. Jedenfalls scheinen die Protagonisten mehr umeinander zu kreisen oder gar zu verharren, als sich von A nach B zu bewegen.
Das ist zumindest zum Teil dem Entstehungsprozess dieser zwischen bebilderter Kurzprosa und Graphic Novel im engeren Sinne angesiedelten Form geschuldet. Ursprünglich auf dem Weblog der Autorin begonnen, wurden ihre Einträge regelmäßig von einem Schweizer "Bildermacher" (so seine Eigenbezeichnung) namens Anton Rittiner mit leichten, monochromen Aquarellen gleichsam kommentiert.
Rittiner, der in der Kunstwelt stets als Paar "Rittiner & Gomez" firmiert, und Mohafez fanden sich daraufhin zu einem Text-Bild-Projekt zusammen, das 2012 in die Fertigstellung des Mikroromans "Das eigenartige Haus" mündete, der seinerzeit bei dem Berner Experimentalverlag edition taberna kritika erschien. Davon angeregt, vertiefte sich in der Folge die Zusammenarbeit.
Einmal pro Woche schrieb Mohafez ein Kapitel, zunächst ohne zu wissen, wie die Geschichte weitergehen würde, und Rittiner & Gomez brachte seine bildnerische Umsetzung dazu zu Papier. Das war freilich mehr als bloßes Illustrieren, die Bilder wirkten ihrerseits auch auf den Fortgang der Geschichte.
Beide Künstler sind eigenen Aussagen nach allerdings weniger vom inhaltlichen als vom ästhetischen Standpunkt aus vom jeweiligen Schaffen des Anderen fasziniert, und das erklärt auch die kongeniale Stille, die aus dem Interagieren der beiden Kunstformen entsteht. Ein un-grelleres Buch als „Kitsune“ ist kaum vorstellbar. Die Formstrenge – stets zehnzeilige Textkapitel auf der rechten, in zarten, gleichwohl immer markanten Braun-, Grau- und Blautönen mit wenigen gezielt gesetzten andersfarbigen Einsprengseln gestaltete, gegenständliche Aquarelle auf der linken Seite – scheint auf das Erzählte abzufärben. Und doch baut sich so etwas wie eine latente Spannung auf, vor allem bei der ersten Geschichte "Das eigenartige Haus".
Hier beobachtet ein Mensch, der stets in der ersten Person Plural von sich spricht und ansonsten ohne Namen und Geschlecht bleibt, das Haus gegenüber und stellt fest, dass einzelne Etagen oder Wohnungen schrumpfen und sich wieder ausdehnen. Dem will er auf den Grund gehen. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist ein Mann names Iwan, der in einem nicht näher bezeichneten Verhältnis zu ihm steht. Ist es der Sohn? Eine Art Betreuer? Raffiniert uneindeutig gestrickt, bleibt das alles offen bis zum Schluss, selbst dass dieses "Wir" in Wahrheit nur eine einzelne Person ist, erschließt sich erst allmählich. Vielleicht ist die Autorin ja auch durch den "Paar-Namen" ihres Bildermachers dazu angeregt worden? "Wir" wissen es nicht. "Wir" dürfen nur wieder einmal beim Lesen erleben, dass das wahrhaft Schöne an Literatur nicht die Antworten sind, sondern die Fragen, die sie stehen lässt und die uns zum Weiterdenken anregen.
Das eigentlich überraschende Moment erschließt sich dem Leser allerdings Schritt für Schritt in den beiden folgenden Mikroromanen. Konsequent wird dort die "Handlung" noch weiter sublimiert, gleichen sich Form und Inhalt noch näher an als in der ersten Geschichte. Vielleicht wurde diese gerade deshalb zusammen mit "Kitsune" und "In der Ferne die Felsen" nochmals veröffentlicht. Erst in der Zusammenschau aller drei inhaltlich vollkommen voneinander unabhängigen Texte wird das Suchende, Vorläufige des voranschreitenden künstlerischen Prozesses der beiden Akteure offenbar.
Die Metathematik der drei Mikroromane scheint sich einerseits aus der Einsamkeit zu speisen, die nicht notwendigerweise als negativ empfunden werden muss; andererseits spielt die Entstehung von Kunst, das artifizielle Moment und seine Spiegelung im Text eine entscheidende Rolle.
"Kitsune" handelt von einem Mann namens Vinzent, der den Tod seines kleinen Bruders verarbeiten muss, an dem er selbst Mitschuld trägt. Dies scheint ihm durch das Gespräch mit wohlmeinenden Menschen nicht zu gelingen; erst, als ihm in der einsamen Bergwelt, in der er lebt, eines Winters ein weißer Fuchs zuläuft, beginnt er Schritt für Schritt mit sich ins Reine zu kommen. 'Kitsune' ist das japanische Wort für Fuchs, in der Mythologie des asiatischen Inselvolkes steht er für ein Wesen, das oft in Frauengestalt als Heilerin, als eine Art gute Fee, auftritt.
Rittiner & Gomez begleitet diesen Text mit unendlich ruhigen, sepialastigen Bildern; gemeinsam stellt sich tatsächlich eine Art von fernöstlich angehauchter Kontemplation beim Leser ein, obwohl die Geschichte selbst ganz offensichtlich irgendwo in den Alpen spielt. Man fühlt sich leise und von fern an Haibun und japanische Tuschezeichnungen erinnert, ohne dass der Bezug jemals aufdringlich würde.
Der letzte der Mikroromane, "In der Ferne die Felsen" bewegt sich handwerklich schon nahe am erzählerischen Selbstmord des Autors-als-solchem. Noch einmal verlangsamt sich das Tempo. Ein nicht näher bezeichneter Beobachter hat drei Personen im Visier, die am Meer in einer Hütte leben. Sie haben keine Vergangenheit, wissen nicht, wo sie sind und wie sie dorthin gekommen sein mögen. Sie sind darüber offensichtlich nicht verstört, kennen keine Existenzängste. Wie selbstverständlich nehmen sie hin, dass sich jemand um ihre Nahrungsvorräte kümmert (der Beobachter? Auch dies bleibt im Unklaren...). Der Beobachter scheint auf eine Initiative der kleinen Gruppe zu hoffen, einen Aufbruch, um ihre Umgebung zu erkunden, ihre Lebenssituation einzuschätzen. Dies geschieht bis zum Schluss nicht. Statt dessen finden die drei Hinweise auf die Anwesenheit eines Malers. Immer häufiger stoßen sie auf Pinsel, Farben und andere Malutensilien. Am Ende scheint es möglich, dass es sich bei der Geschichte gar nicht um eine Geschichte handelt, sondern um ein Bild. Die Worte lehnen sich gleichsam in die Aquarelle gegenüber und werden von ihnen getragen. So etwas muss man können. Und die beiden Künstler können es!
Immer ließe das Ganze sich auch völlig anders interpretieren. Eine Offenheit dieser Art mag unter Umständen in der Gestaltung weniger trittsicherer Artisten, als es Mohafez und Rittinger & Gomez sind, beliebig und ärgerlich wirken. Und in der Tat: wer einem Prosatext eine fortschreitende Handlung zwingend abverlangt, der wird mit diesem Buch wohl nicht warm werden. Denn bei aller poetischen Stimmung, die es erzeugt, handelt es sich doch um echte Prosa, keine Lyrik, auch keine lyrische Prosa. Aber das hieße das Gelingen eines gleichberechtigten Gesamtkunstwerkes aus Text und Bild zu verkennen, das den Spagat zwischen Tradition und Experiment, zwischen Formwillen und kindlicher Neugier auf das „Wie-weiter“ erstaunlich mühelos bewältigt. Die edition AZUR steuert hierzu schlussendlich noch eine angemessen schlichte und doch wertige Aufmachung samt schöner Papierqualität bei.
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