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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Die Bundesstraße hat am Wochenende kaum Geschwister

Hamburg

Nach Bänden unter anderem bei Jung und Jung und Edition Azur folgt jetzt mit Kolonien und Manschettenknöpfe das Suhrkamp Debüt von Thomas Kunst. Es ist ein ganz starkes geworden. Kunst, der seit den 80er Jahren schreibt, bleibt sich selbst und seiner eigenwilligen Dichtkunst treu. Der Band kristallisiert jenes Dichten/ Sprechen in bissigen Überraschungen aus und schütten es wie ein Regen aus "Kolonialwaren" über die sieben regulären Abteilungen des Bands, dazu zwei irreguläre Abteilungen am Schluss, die einen besonderen, leicht verqueren Charmeballon fliegen lassen (Dazu später).

Kunst schreibt in Kolonien und Manschettenknöpfe entweder astreine Sonette (er ist ein lockerer Meister dieser Altform) oder kurze Einschübsel oder aber, und das ist die hier auftretende Hauptform, epenartige, strophenlose Langgedichte. Sie sind fast narrativ zu nennen, crashen jene Anmutung aber regelmäßig durch Aufbrechen von zeitlicher Folge, Verpuppungen in Refrains (So ist zum Beispiel das letzte reguläre Gedicht ein cut-up bzw. Superrefrain mit Variation der Schlüsselstellen aus den vorherigen Abteilungen, ebenfalls seitenlang) und Relativierungen in den jeweils nächsten Gedichten. Kunsts Gedichte streuen Material, um es direkt wieder aufzugreifen, neu zu verwenden, umzudeuten, vielleicht auch einfach einmal so stehen zu lassen. Das Spiel ist stets, welche Zeile der soeben gelesenen wird wohl das nächste Gedicht eröffnen? – Kunst verzichtet auf Titel, die erste Zeile ist derselbe. So entsteht ein Strom, eine dicht bepackte Materialschmelze, die auf jedem Fall in einem Zug geleert werden sollte. Der Ton und die Themen pendeln zwischen hymnisch, zynisch, trashig und traurig, ernüchternd und skurril. Voller Neugier auf Namen, Plätze und die Welt zwischen einer Mecklenburgisch-Sächsischen Sprachtopografie (Bandenitz, Schibukat, Unterzetzscha, Delitzsch, Traudi aus Malchow etc.) und Amerika, Argentinien, Upper Hunza, Juventus Turin, Selena Gomez, Santa Teresita, Elvis etc. und immer abgefahreneren Orten (wie das Tal der Hundertdreißigjährigen, Malawi usw.). Auffällig ist die Lust am Text/ den Namen allein, die Kunsts Fertigkeit und Vorlieben und ihn selbst durchaus in die Nähe von Thomas Pynchon und Donald Barthelme rücken (letzterer tritt im Übrigen selbst auf in den Texten. Zusammen mit Feri-san Zaimoglu, Hafis und Ulrich Zieger und anderen). Eine Mischungssucht von Bestandsaufnahmen, Trivialitätenkabinett, durchaus irritierenden und aufstoßenden Passagen in political incorrectness und hochgebildeter Seltene-Erden-Suche, irgendwie im Gewand eines Luna-Parks (auch auf dem Cover suggerierend=passend abgebildet), einem Archiv der Landschaften aus Inventar der „Kunst-Sprache“, die unter anderem mit Folgendem aufwartet (Zufallsbegriffsstudio):

„Babyfabrikgroßes Insekt“
„Legobastard“
„Eine Unke Kaffee“
„Mittlere Aprikosenfindlinge“
„[…] ich brauchte Geld
Und sprach noch schnell KZ-Gedichte ein“
„Umhertreibender See“
„Steppenentwurf“
„Die Mitschuld der Glühbirne“
„Affenkopfpeiniger“
„Naturtrübes Badezimmer“
„Ich würde hier im Ernstfall sogar
Ein Kerngehäuse als Waffe benutzen“
„Der Schluck Cola aus der Einhorntasse“
„Der Tod ist kein Signal, das uns verbindet“
„[…] unterwegs in Booten, die von der chinesischen Weltraumbehörde als
Friedlich eingestuft werden“

Absolut reif ist Thomas Kunst Verwendung solcher Mikrotermini/ Mikrowelten (siehe oben), die wohlgesetzt auftauchen, nicht ablenken und je Gusto für große Momente beim Lesen sorgen. Sein Einsatz von Enjambement ist besser, d.h. treffender und begründeter, kaum machbar. Handwerklich laufen Kunsts Gedichte auf Hochniveau. Die Inhalte mit dem eigentümlichen Changieren zwischen ironisierten Refrains wie „Bessie will SS-Mann werden“ oder

„[…] man wird sich jawohl noch
Mal vor seinem Tod, in einem nordpakistanischen Tal, ein kleines,
Unrestauriertes Haus mit unverputzter Waschküche kaufen
Dürfen, um älter als der Rest der Menschheit zu
Werden“

und die Schilderungen von 70/ 80er Jahre Panoramen und Menschen von Rügen bis Süden und dem qualvollen Selfie-Mord eines von Touristen vor Buenos Aires „gefundenen“ Delfinbabys schwingen wie Auslagen in einer Handlung für Alles. Eine Handlung, in der Waren weitergereicht werden und sich in einem ständigen Neuarrangement befinden. Ein Höhepunkt ist das 12-seitige Poem „Den schönen Frauen im Flachwasser“, bei dem eben jene Refrains und gefühlt 1001 Ding mehr elegant fließend verhandelt werden.

Als Beispiel für Kunsts Sonett-Anteil diene Folgendes:

„DIE DINGE LÄGEN ANDERS, RUSSISCHER –
Gebäudeborschtsch mit Knochen, hier ein Draht
Und dort ein Birkenschimmer, kein Soldat.
Der Liebestaumel ist ein muskelfrischer

Gedichtverlauf mit Äpfeln an den Rändern.
Die Säure stößt sich an den Vorderzähnen.
Gebietsverlassenheit zum Gegenlehnen.
Die Dinge lägen anders, kaum verändern

Gestalten, weiter weg, das Kriegsgeschehen,
Verschieben sich die Linien mit den Schiffen.
Geschäfte, Draht und saure Lagerzonen.

Wir könnten slawisch immer weitergehen.
Geduld ist im Gesang mit inbegriffen.
Die Wiederholbarkeit ist zu bewohnen.“

Hier ein Ausschnitt des eröffnenden Delfin-Gedichts:

„DER HORIZONT AM SCHÄDEL EINE PFERDES; PONTOPORIA
Blainvillei, ich wollte an der argentinischen Küste immer weiter Geburtstag
Haben, aber die größten Dinge im Leben sind absolute
Fehler, das künftige Lampenöl zu lange in die Sonne
Gehaltener Delphine, La Plata Exzesse, Lichterketten am
Strand, Halbstarke im Klimawandel, die utopischen Versuche, die
Nasen oder Schnauzen aus den Köpfen der Tiere zu
Brechen, das Zählen der hundertsechzehn Zähne
Im Unterkiefer in seine Überlegungen mit
Einzubeziehen […]“

Die angesprochenen Charmeballons gegen Ende des Bands sind ein süßes Glossar, anders kann man es nicht nennen, in dem Kunst von Treffen mit zitierten Leuten erzählt in Rom und Venedig (sehr amüsant und essentiell, unter anderem durch ein, innerhalb der Anmerkungen zu Ulrich Zieger, enthaltenes Sonett, sozusagen ein heimliches Sonett, das allerdings wiederum auf dem Buchrückentext erscheint – das Spiel geht weiter), und Bemerkungen zu Filmen, Orten und Vorfällen (für das erweiterte Verständnis vieler Stellen in den Gedichtabteilungen durchaus notwendig), einer Plattensammlung, die Kunst als „für das Schreiben unabdingbar“ apostrophiert und ganz zum Schluss eine umwerfende Danksagung an Menschen wie Ulf Stolterfoht und die Mami. Vielleicht irritieren jene Appendizes die Leser der wortgewaltigen und streng komponierten Gedichte aus Kolonien und Manschettenknöpfe, aber eigentlich wirken sie eher wie ein verschmitztes Selbstportrait des Künstlers als junger … Der Mensch Kunst macht sich hier selbst sichtbar. Es steigert die Komplexität jener vorhergehenden Strenge durch Aufbrechen und Unterwandern. Sein Band ist nichts weniger als phänomenal. Kolonien und Manschettenknöpfe ist reif für jegliche Form der Auszeichnung.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wurde am 09.08.2017 um 12.30 Uhr auf Wunsch des Verfassers aktualisiert.

Thomas Kunst
Kolonien und Manschettenknöpfe
Suhrkamp
2017 · 125 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42754-5

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