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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Das Lehr’sche Miniaturencabinet im Schein der Sonne

Hamburg

Thomas Lehr verbindet gelungene narrative Miniaturen, etwa die Beschreibung des Inneren einer Kabine eines Jets auf Interkontinentalflug oder des Tages im August 1914, als der Erste Weltkrieg begann, zu einem historischen Tableau, ein wenig so, als blicke man in ein Panorama, wie in jenes von ihm beschriebene Kaiserpanorama mit seinen dreidimensionalen Bildern.

Das Ganze erinnert mich an das berühmte Morgenstern’sche Miniaturencabinet im schönen, neuen Historischen Museum zu Frankfurt: Der restaurierende Maler Morgenstern fertigte von den vielen restaurierten Gemälden kunstfertige Bildchen an und stellte sie in einem Schau-Schränkchen zusammen. Die erzählerischen Übergänge und Verbindungslinien der Lehr’schen Miniaturen, der Erzählungen innerhalb der rahmenden Schrank-Erzählung werden, auch nach mehrfacher Lektüre, nicht deutlich, was zu einem gewissen Eindruck der Desorientierung führt.

Bisweilen ist das höchst artifizielle Erzählen ein wenig zu glatt, um nicht zu sagen, zynisch, wenn es beispielsweise von den 17-, 18-jährigen Abiturienten, die berauscht in den Krieg ziehen, heißt:  Sie wollten

(…) ihre Eingeweide bei Flandern an die Wäscheleine hängen (…) (S. 39)

Das abstoßende Bild vergisst, dass es sich um Opfer handelt, wenn auch z.T. ihrer eigenen Torheit. Andere Sätze will man nicht gelesen haben, es sind aber sehr seltene Vorfälle:

Am Abend jedoch trugst du deine Seele auf den Händen. (S. 92)

Ja, metaphorisch, klar, die Hände sind verletzt und schlecht bandagiert, Blut dringt durch den Verband, aber dennoch halte ich es für einen Kitsch-Satz. Aber solche einzelnen Sätze sind bei 638 Seiten Umfang verzeihlich, zumal ich mir nicht ganz sicher bin, ob er nicht vertrackt ironisch gemeint sein könnte.

Worin besteht nun der innere Zusammenhang zwischen den einzelnen Miniaturen? Jonas ist zur Vernissage der Malerin Milena eingeladen, mit der er eine Zeit lang in der Vergangenheit zusammenlebte. Der „Heliologe“ Jonas nun scheint z. T. aus der Ich-Perspektive zu erzählen, vor allem seine sexuellen Erfahrungen, ohne dass die diversen Frauen über ihre geschlechtliche Identität hinaus wirklich ganzheitlich geschildert würden. Der Autor scheint schon sehr von der sexuellen Thematik eingenommen und der Freud’schen Ansicht zu folgen, die ja dem vergangenen Jahrhundert eine prägende, zentrale Erkenntnis war, dass der Sexus eine zentrale Rolle in der menschlichen Existenz spiele. Ohne die Rolle des Sexualtriebs vollkommen negieren zu wollen, kann man doch die These wagen, dass es nun gerade eine Qualität des Humanen sei, den Primat der Ratio nicht nur zu behaupten, sondern auch ohne Neurosen und Schlimmeres in einen – psychoanalytisch gesprochen – erwachsenen Umgang mit dem Leben zu verwirklichen. Ich bringe dem Sexualtreiben meiner Mitmenschen, und als solche sehe ich auch Jonas und all die Frauen des Textes, kein besonders ausgeprägtes Interesse entgegen, eher doch dem, was sie über die Vorgänge in der Welt denken oder anders mit James Joyce gedacht, wie denn ihr inneres Gespräch, als Monolog oder polyphon, klingt. Davon höre ich von Thomas Lehr zu wenig. Es geht nicht um Prüderie sondern darum, dass sexuelles Verhalten ein Teil des Lebens ist und damit selbstverständlich Thema der Literatur, aber die Reduktion auf diesen Teil-Aspekt in vielen Kapiteln weder inhaltlich noch literarisch begründet ist. So steht im Mittelpunkt des nur 4⅟2 Seiten kurzen 17. Kapitels (S. 139 ff.) die Beschreibung eines Geschlechtsaktes (Entschuldigung für den kalten Begriff aus den Gerichtssälen!), die als Deskription wiederum gelungen ist, aber auch in der geradezu monumentalen Aussage endet:

Sein Leben war vorbei, aber auch ihres, sie schwebten über dem Abgrund des Glücks. (S. 143)

Sollte es keine Hypostasierung des Geschlechtsaktes (Entschuldigung!) sein? Der Satz dient als Abschluss des ersten Teiles, aber die Aussage ist in keiner Weise aus der Schilderung einer mehr als nur Körperliches umfassenden Verflechtung zweier Menschen begründet und wirkt so oberflächlich. Ohne dass er es ausspräche, vielleicht ohne dass er es selbst überhaupt bemerkte, scheint Thomas Lehr der platonischen Dichotomie von Seele (Geist) und Körper als der die abendländische Kultur imprägnierenden Sicht auf den Menschen zu folgen: Selbst wenn der Mann (Jonas) denkt, „sehr langsam“ denkt, wird nicht gesagt, was er denkt und die Frau (Milena) denkt gar nicht. Die körperlichen Sensationen stehen im Vordergrund, ihre Beschreibungen sind anregend zu lesen, da sie gekonnt erzählt werden, aber der Eindruck einer glänzenden Oberfläche ohne jede Tiefe bleibt bestehen.

Im DDR-Kapitel, in dem vorgeführt wird, wie Milenas Maler-Vater sich an der avantgardistischen (Kölner) Fluxus-Bewegung orientierend, ein Atelierfest veranstaltet, währenddessen für die selbstverständlich anwesenden Stasi-Schergen zu viel der Kritik geäußert wird, wird der Charakter der menschenfeindlichen Züge des Regimes in seiner Brutalität nicht erfahrbar. Der weit über allem schwebende Erzähler schafft eine so distanzierte, kühle Atmosphäre, dass der rhetorisch gelungene Text nicht berührt. Lehr kann auch bei sicher angestrebter Nähe des Erzählens eine Haltung der Distanz nicht überwinden, sein Erzählen geht nicht unter die Haut.

In diversen Rezensionen wurde über das Bauprinzip des Textes spekuliert, jedenfalls meist eine Analogie zu physikalischen (Quantensprünge) oder gar kosmischen Strukturen (Spiralen) angedeutet. Ich hatte den Eindruck, es gebe tatsächlich so etwas wie eine komplizierte Formel, die die Struktur enthalte oder erlaube, sie zu entschlüsseln, aber, ehrlich gesagt, mir geht jede Intention ab, der Struktur nachzuspüren. Der bewussten Verrätselung fehlt jede freundliche Geste in Richtung des Lesers. Sie wirkt anmaßend, so als sage Thomas Lehr: Ich möchte gar nicht „verstanden“ werden, ein Text, den ich verfasse, ist kein kommunikativer Akt. Andererseits ist schon klar, dass ein ernsthafter Autor seit Friedrich Hölderlin nicht für den Marktplatz schreibt und das ist äußerst honorig, aber große Autoren wie der des Ulysses oder der Snopes–Trilogie sahen keine Notwendigkeit, den Rahmen ihres Erzählens zu verbergen und damit eine Hürde des Verständnisses zu schaffen. Wenn es also ein poetologisch notwendiges Motiv gibt, keinen Rahmen zu zimmern oder ihn zu verbergen, dann wäre das Rätselhafte schlicht eine Masche. Mir ist es nun unmöglich zu entscheiden, wie es sich bei Thomas Lehr damit verhält.

Gibt es eigentlich zur heutigen Verfassung der Welt, gespiegelt (wie immer in der Literatur) in den handelnden Personen keine wichtigeren Befunde als die Wirkungen und Ansichten des sexuellen Verhaltens? Nicht einmal die Kunsttheorie der Malerin Milena und damit ihre Sicht auf die Welt werden deutlich. Dass wir, ich meine ein großer Teil der Menschheit, heftig dabei sind, den Planeten in eine Wüstenei zu verwandeln, ist doch ein dunkler Grundton heutiger Reflexionen und damit des Lebensgefühls. Nichts davon. Nichts.

Thomas Lehr ist dennoch ein vorzüglicher Erzähler, aber er bringt seine Miniaturen nicht in einem breiten Erzählstrom zusammen und das ist ein Jammer. Sollte er zu wenig Thomas Mann gelesen haben? Unwahrscheinlich. Also wirft er sich bewusst Knüppel zwischen sein Erzählen, was so wirkt, als wolle er die Mann’sche narrative Harmonie, das heißt die besänftigende Ästhetik des Mann’schen Erzählstromes, unbedingt verhindern: Sehr schade! Mir ist es ein Rätsel, wie man über nichts Neues so schön schreiben kann, wobei das Erzählte aber merkwürdig entrückt wirkt, eher wie das Fragment eines gotischen Scraffito, etwa des übergroßen Christopheros in der Kapelle des Landgrafenschlosses zu Marburg an der Lahn, freigeschabt von Jahrhunderte alten, dicken Kalkschichten, blass, aber wenn man lange genug darauf schaut, sieht man den Träger durch den Jordan waten. Das Leben ist allerdings noch viel tiefgründiger als der Jordan, aber davon ist bei diesem über Oberflächen schwebenden Erzählen nichts, gar nichts, zu spüren.

Thomas Lehr
Schlafende Sonne
Hanser Verlage
2017 · 640 Seiten · 28,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25647-7

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