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Kritik

Zukunftsweisende Essays

Hamburg

»Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und sie, was machen Sie?«
(John Maynard Keynes)

In der Zeiten der History Channels und der vielen auf Historie bezogenen digitalen Medienerzeugnisse, aber auch dem Hinterfragen vieler lange gewahrter Denkmuster und dem Streit um die richtige Auslegung der ferneren und vor allem näheren Vergangenheit, ist Geschichte etwas Omnipräsentes, geradezu ein tägliches Konsumgut, und Geschichtswerke üben eine entsprechende Faszination aus – egal ob man es mit den Klassikern hält und Autoren wie Mommsen, Gibbon oder sogar einen der alten antiken Historiker wie Herodot und Lukan liest, ob es einem der 2. Weltkrieg angetan hat (wobei man gut daran tut sich an Werke wie die von Richard J. Evans, Ian Kershaw oder Swetlana Alexijewitsch zu halten, und Guido Knopp & Co. einerseits und David Irving & Co andererseits aus dem Weg zu gehen) oder eine ganz andere Periode.

Das erste Buch, das ich von Tony Judt las, war 1000 Seiten stark und handelte von der Geschichte Europas nach dem 2. Weltkrieg – ein Wälzer, den ich in wenigen Tagen verschlang. Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart ist ein mehr als lesenswertes Werk und gehört, zusammen mit Krieg der Welt: Was ging schief im 20. Jahrhundert? von Niall Ferguson und den Büchern von Philipp Blom, zu den Geschichtswerken, die mein Bewusstsein für Historie und ihre Betrachtung am entscheidendsten geprägt haben (wobei auch Bücher anderer Genres wichtige Perspektiven hinzufügten, so zum Beispiel Rebecca Solnits Wenn Männer mir die Welt erklären oder Arno Schmidts Alexander oder Was ist Wahrheit?)

Dass Judt auch ein famoser Essayist ist, stellte ich bereits bei den Texten aus Das vergessene 20. Jahrhundert fest (ebenfalls sehr lesenswert).

Kurzum: ich wusste schon ein bisschen, was mich in „Wenn sich die Fakten ändern“ erwarten würde – und doch bin ich am Ende der Lektüre wieder schwer beeindruckt von der Entschlossenheit, dem Kenntnis- und Reflexionsreichtum, die Judt hier präsentiert und in denen er sich den Themen der Gegenwart zuwandte.

Seine Warnung, der wir in den hier vorliegenden Texten regelmäßig begegnen, dass aus dem »ökonomischen Zeitalter« ein »Zeitalter der Angst wird« und wir ein »Zeitalter der Unsicherheit« betreten, zeigt nur, mit welcher Sorge und mit welchem Pessimismus er die politische Entwicklung verfolgte. (Aus dem Vorwort)

Die Essays, die auch die letzten Beiträge, an denen Judt vor seinem Tod noch arbeitete, enthalten, sind in fünf Teile unterteilt. Die Texte des ersten Teils, beginnend mit einem Rezensionsessay zu Erich Hobsbawms „Das Zeitalter der Extreme“, entstanden zwischen 1995-1998 und sind in erster Linie Besprechungen zu historischen Werken, mit einigen Ausführungen, die über die bloße Rezension hinausgehen und die Werke in den Zusammenhängen ihrer Zeit verorten.

Judt zeigt schnell seine Qualitäten als redliche, kritische und differenzierte Instanz – so zerlegt er in einem der Texte ein hochgelobtes Geschichtswerk und weist ihm Schlampigkeit und parteiergreifende Tendenzen nach, mit einem guten Blick für die entscheidende Bedeutung von Details und Perspektiven.

In einem anderen Text des ersten Teils, aus dem Jahr 1996, geht es um die Zukunft Europas. Ich bin nach wie vor verblüfft, wie genau Judt die heutigen Verhältnisse auf dem Kontinent vorausgesagt hat, wie genau er die damaligen Tendenzen herausarbeitet. Über Mitteleuropa, das damals, beschwingt vom Ende des kalten Krieges und noch ohne den Schatten von 9/11 oder des neuen Ost-West-Konfliktes, eigentlich wie ein Gewinner dastand, schrieb Judt:

Wenn »Europa« für die Gewinner steht, wer wird dann für die Verlieren sprechen – für den Süden, für die Benachteiligten und Unterprivilegierten, die nicht in wohlhabenden, grenzüberschreitenden Superregionen leben? Es besteht die Gefahr, dass für diese Europäer am Ende nur noch die Nation bleibt, genauer gesagt der Nationalismus […] der klassische Nationalstaat als Bollwerk gegen den Wandel. […]

werden wir eines Tages aufwachen und feststellen, dass der Mythos »Europa« nicht nur die Probleme des Kontinents nicht gelöst hat, sondern uns daran gehindert hat, sie zu erkennen. Wir werden feststellen, dass »Europa« kaum mehr ist als ein politisch korrektes Verfahren zum Übertünchen lokaler Probleme, als ob schon durch den Verweis auf das Versprechen eines vereinten Europas alle Probleme und Krisen bewältigt werden könnten.

In diesem Europa-Text (und in anderen Texten in diesem Band) zeigt sich bei Judt ein Bewusstsein, das (in meinen Augen) nur wenige Historiker wirklich annehmen und beherzigen, auch weil sie allzu oft lieber die herrlichen und diabolischen Großgestalten und die knalligen Ereignisse der Historie ins Visier nehmen oder einfach nur erschöpfend ihre Gelehrsamkeit ausbreiten: ein Bewusstsein für die Bevölkerungsgruppen, Staaten, Menschen, Ideen, die zwischen den Stühlen der großen Ideologien, Systeme, Persönlichkeiten und Mächte standen und stehen, die keine strahlenden Geschichten zu bieten haben, im historischen Narrativ kaum vorkommen oder, wenn doch, nur als Randnotiz. Kurzum: ein Bewusstsein für die heiklen Diskrepanzen, die sich seit jeher in der Geschichtsschreibung auftun. Ein Bewusstsein für die Dimensionen, mit denen in Geschichtsbüchern, auch tagesaktuellen, operiert wird.

Schon in seinem Geschichtsbuch über Europa nach 1945 hat Judt sich viel mit den vergessenen Ereignissen und Vorkommnissen in Osteuropa und anderswo auseinandergesetzt. In dem Europaessay in diesem Buch legt er den Finger auf ein Problem, das die westeuropäischen Nationen (Begründer der EU, aber auch die Quasierfinder von globalem Kolonialismus und Imperialismus) lange ignorierten (und noch ignorieren): das Problem des Gefälles innerhalb Europas, aber auch zwischen Europa und Nordafrika, zwischen Europa und dem Nahen Osten; zwischen Europa und großen Teilen der Welt. Judt zitiert in diesem Zusammenhang Hobsbawm:

Leiden ist nicht das Privileg gutinformierter Menschen. Und Historiker, die das nicht akzeptieren, braucht man nicht zu lesen.

Der zweite Teil fasst einige Texte, die Judt zwischen 2002 und 2010 über Publikationen zum, oder direkt über den Israel-Palästina-Konflikt geschrieben hat. Auch hier fassen seine prägnanten Analysen die Problematiken präzise zusammen und er weist wiederholt auf die gefährliche Schieflage hin, in die der israelische Staat seit den Ereignissen des Sechstagekriegs geraten ist (und wie die USA zu dieser Schieflage Beihilfe leisteten). Er bezieht nicht für eine der beiden Seiten Position, stellt aber klar, dass Israel immer noch die herrschende Macht ist und deshalb maßgeblich verantwortlich für den Frieden und die Gerechtigkeit innerhalb des Territoriums.

Das Versagen der palästinensischen Führung ist gigantisch und das Vorgehen der palästinensischen Terroristen extrem kriminell, aber es ist eine Tatsache, dass Israel die militärische  und politische Macht hat. Die Verantwortung, aus der gegenwärtigen Sackgasse herauszukommen, liegt also in erster Linie (aber natürlich nicht ausschließlich) bei Israel.

Doch das verstehen die Israelis nicht. Sie sehen sich noch immer als Opfer, die sich mit Augenmaß gegen eine Übermacht verteidigen.

Und er kommt zu einem Ergebnis, dass für mich alles zusammenfasst, was ich mir immer wieder denke, wenn ich die israelische Politik der letzten beiden Jahrzehnte betrachte:

Die deprimierende Wahrheit ist, dass Israel heutzutage den Juden schadet. […] Es besteht die Gefahr, dass Israel im Kampf zwischen offenen, pluralistischen Demokratien und intoleranten, ethnisch-religiös geprägten Staaten im falschen Lager landet.

Sehr kritisch sieht Judt auch den Krieg gegen den Terror: Die damit einhergehende Propaganda verwischt für ihn die Grenzen zwischen dem, was es tatsächlich zu bekämpfen gilt und dem, was an Interessen und Privilegien verteidigt und im Namen (und unter dem Deckmantel) des Antiterrors durchgesetzt wird.

Das Wort »Terrorist« wird das Mantra unserer Zeit werden, wie früher »Kommunist«, »Kapitalist«, »Bourgeois« und andere Begriffe. Das Wort hat seine eigenen Geschichte: Hitler und Stalin bezeichneten ihre Gegner gern als »Terroristen«. Natürlich gibt es Terroristen, so wie es Bürgerliche und Kommunisten gibt. Terror gegen die Zivilbevölkerung ist die Waffe der Schwachen. Das Problem ist nur, dass »Terrorist« – genau wie »Schurkenstaat« – ein schillernder Begriff ist, der wie ein Bumerang zurückschlagen kann.

[…] Natürlich gibt es Terrorismus. Es geht auch nicht darum, ob wir Terrorismus und Terroristen bekämpfen sollten. Natürlich sollten wir das. Die Frage ist, welche anderen Probleme wir vernachlässigen oder überhaupt erst schaffen, wenn wir uns ausschließlich auf einen einzigen Feind konzentrieren und damit die hunderterlei schlimmen Dinge rechtfertigen, die wir selbst tun.

Es wird ja viel über Sicherheit diskutiert - aber meines Erachtens viel zu wenig darüber, warum Terroristen tun, was sie tun. Natürlich haben sie selten lautere Motive; viele sind außerdem indoktriniert, gefangen im festen Glauben an religiöse und tradierte Vorstellungen. Aber es ist nun einmal so, dass Religion und Tradition allein keinen zum Mörder machen. Und dass Menschen empfänglicher für Radikalisierungen und verachtendes Gedankengut sind, wenn sie in Armut aufgewachsen sind oder Ungerechtigkeit, Gewalt und Unterdrückung erfahren haben. Und was auch immer einen Menschen dazu bringt, sich in die Luft zu sprengen (oder eine anders geartete sinnlose, mörderische Tat zu begehen), es wird neben Wahn und Hass auch etwas mit Verzweiflung, Aussichts- oder Perspektivenlosigkeit zu tun haben.

In einem Essay zum Problem des Bösen im Nachkriegseuropa, in dessen Verlauf es viel um den Holocaust geht, schreibt Judt:

Das Problem des Bösen, des totalitären oder genozidalen Bösen, ist ein allgemeines Problem. Wenn es aber für eine bestimmte Sache instrumentalisiert wird, dann werden diejenigen, die weit entfernt sind von der Erinnerung an die europäischen Verbrechen (weil sie keine Europäer sind oder weil sie zu jung sind, als dass sie sich erinnerten und also wüssten, warum es so wichtig ist), nicht verstehen, was diese Geschichte mit ihnen zu tun hat, und nicht mehr zuhören, wenn wir es ihn erklären wollen.

Kurzum, der Holocaust könnte seine allgemeine Resonanz verlieren. Wir können nur hoffen, dass das nicht eintreten wird, und müssen Wege finden, wie wir die wesentliche Lehre der Schoah bewahren können: dass ein ganzes Volk umstandslos diffamiert, ausgestoßen und vernichtet werden kann.

[…]

Wenn wir die Vergangenheit aus politischem Kalkül plündern – all das nehmen, was unseren Interessen dient, und unter Verweis auf die Geschichte opportunistisch moralische Lektionen erteilen –, dann haben wir am Ende schlechte Moral und schlechte Geschichte.

In diesem Umfeld greift Judt auch ein Thema auf, das ihn über den ganzen Band, aber vor allem im dritten Teil, beschäftigt: Für ihn ist unsere Obsession mit dem 20. Jahrhundert ein Symptom für die Unfähigkeit, die Probleme unserer Zeit anzugehen. Wir ruhen uns quasi aus auf den Insignien und Schrecken des vergangenen Jahrhunderts aus: Hitler und Stalin – die perfekten Fieslinge, mit denen wir einfach jeden vergleichen, den wir zum Bösewicht stilisieren wollen. Der Holocaust – das schlimmste Verbrechen aller Zeiten, das alle anderen in den Schatten stellt (natürlich ist der Holocaust eine Zäsur in der Geschichte, ohne Frage, und das Gedenken an die Tat und die Opfer sollte gewahrt und weitergegeben werden, an jede neue Generation – aber ich verstehe nicht, warum der Genozid an den amerikanischen Ur-Einwohnern oder andere Genozide weltweit, historisch oder aktuell, auf ihre Art keine Zäsur sind, die wir in der kollektiven Erinnerung als solche mittragen sollten. Es geht dabei nicht darum, sie mit dem Holocaust zu vergleichen, den Holocaust zu relativieren oder die Schuld oder die Bedeutung zu relativieren. Es geht darum, ein umfassendes Bewusstsein für Geschichte zu erzeugen, das nicht auf eine Epoche und ein Ereignis begrenzt ist). Freiheit der Völker, Gleichberechtigung aller Geschlechter und Ethnien, liberale Gesellschaften – Errungenschaften, die erkämpft wurden und jetzt Standard sind, weswegen wir auch nicht mehr weiter drüber nachdenken müssen. Kommunismus und Sozialismus – haben sich erledigt und über wirtschaftliche Systeme sollten wir uns keine Gedanken mehr machen; die Geschichte hat den Sieger ermittelt und festgelegt und er heißt Kapitalismus.  

Das zwanzigste Jahrhundert ist daher im Begriff, sich in einen moralischen Gedächtnispalast zu verwandeln, in ein pädagogisch wertvolles Museum voller historischer Schrecken, dessen Abteilungen Namen wie »München« oder »Pearl Harbour«, »Ausschwitz« oder »Gulag«, »Armenien«, »Bosnien« oder »Ruanda« tragen. […] Problematisch an dieser lapidaren Darstellung des vergangenen Jahrhunderts als einer beispiellos schrecklichen Zeit, die wir nun gottlob hinter uns gelassen haben, ist nicht die Darstellung an sich – denn es war tatsächlich ein schlimmes Jahrhundert, ein Zeitalter von beispielloser Brutalität und unvorstellbarem Leid. Problematisch ist vielmehr die Botschaft: dass all das nun hinter uns liegt, dass wir die Geschichte verstanden haben und nun, frei von den Lasten der Vergangenheit, voranschreiten können in eine andere, bessere Zeit.

 Derlei offizielle Erinnerungen stärken jedoch nicht unser Geschichtsbewusstsein. Sie dienen als Ersatz, als Surrogat. Statt unsere Kinder mit der Geschichte vertraut zu machen, führen wir sie durch Museen und Gedenkstätten. […]

Die Welt, die gerade erst hinter uns ist, ist schon halb vergessen.

Im vierten Teil setzt sich Judt dann vor allem mit den wirtschaftlichen und politischen Dimensionen unserer Tage auseinander, einer Zeit in der 

alle Vorteile den Privatinvestoren zukommen und alle Risiken vergesellschaftet werden.

Ein besonders starker Text setzt sich mit der modernen Sozialdemokratie auseinander, auf was sie sich wieder besinnen muss (die SPD sollte den Text lesen!), ein anderer mit der Finanzlobby. Im letzten Teil folgen drei Nachrufe auf Freunde und bekannte Historiker.

Judt zitiert in einem Text John Maynard Keynes mit dem Satz

Man muss die Geschichte der Meinungen studieren, bevor man das eigene Denken befreien kann.

Nicht anderes tut Judt in diesen Essays, auf vielschichtige, pragmatische, engagierte Weise. Er öffnet Räume fürs Denken und gerade was Politik angeht, versucht er Wege zu finden, sie wieder als Kunst der Möglichkeiten und nicht als starren, eingespielten Mechanismus der Mächte und Privilegien zu begreifen – denn zu so einer Kunst muss sie werden, wenn sie sich den Problemen stellen will, die auf uns zu kommen. Wie Judt schreibt:

Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass wir von einer Lösung sehr weit entfernt sind.

Das gilt für unsere Zeit noch mehr als für seine.

Man könnte den Titel der Sammlung fast schon zynisch als ein Zugeständnis an die „alternativen Fakten“ von Donald Trumps Weißem Haus verstehen – aber er bezieht sich gerade nicht auf diese Art von Fakten. Er steht vielmehr für ein Credo, das unsere Zeit mehr denn je braucht: Fangen wir wieder an, unsere Handlungen an den Fakten zu orientieren, statt die Legenden unserer alten Erkenntnisse darüber zu pinseln und uns im Glanz unserer scheinbar gelernten Lektionen zu sonnen, deren Kern wir auf diese Weise bereits wieder vergessen und die uns nicht auf die Zukunft vorbereiten.

Wenn sich die Fakten ändern, müssen wir mitziehen. Noch schlimmer als Fake News sind Fake Gewissheiten. Mit Tony Judt kann man viele dieser Fake Gewissheiten aufbrechen, einen Schritt vorankommen. Und viele seiner Texte machen mit ihrer Art, Denken und Hinterfragen zu leben, tatsächlich, wahrhaftig: Mut.

Tony Judt
Wenn sich die Fakten ändern / Essays 1995-2010
Mit einem Vorwort von Jennifer Homans.
S. Fischer
2017 · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-10-002508-1

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