Im Geviertstrich die Augen schließen
Auf den ersten Blick wirken die Gedichte der in Metzingen (Baden-Württemberg) geborenen, in Luxemburg lebenden Dichterin Ulrike Bail knapp, spröde, brüchig und zart. Sie bestehen oft aus vier, fünf, höchstens acht Zeilen. Es gibt Winter darin und Eis und Stein. Aber dann sind die Texte bewohnt. Zunächst erscheint ein träger Siebenschläfer, eine einsame Schwalbe. Dann singt eine Lerche. Und schließlich erkennt man, dass viel Energie in den Gedichten steckt, man muss nur empfindsam genug sein. Viel Energie, die zwischen dem Du und dem Wir der Gedichte fließt.
Im ersten Gedicht „winterwünsche“ wird eine Fürsorge beschworen. „dem siebenschläfer bucheckern suchen“, ist eine Aufforderung an ein gemeinschaftliches Tun, oder eine Felsspalte für die „winternachtschwalbe“ finden. Die Risse, vermutlich die Gefahren, Nachrichten und Mühen des Lebens, möchte man gemeinsam aus der Welt schütteln. Und schließlich, wenn man an alle gedacht, alle bedacht hat, dem Wir, nämlich „unserem atem“, ein Nest in Form von „herzhöhlen“ bauen. Das ist ein schöner, empathischer Text, den man jetzt im Herbst als Handlungsanweisung bei sich tragen sollte.
Ausgeprägter ist die Verschränkung von Sprache und Zärtlichkeit in dem Gedicht „grammatik“. Im ersten Teil öffnen sich beim Schreiben „hand / und haut“, schließen sich „im geviertstrich / die augen“. Im zweiten Teil erscheint dann ein Gegenüber, wenn die einsame (Schreib-)Arbeit des Tages vorüber ist. Dann legt sich „wangenbogen an augenmulde“ und übt man neue „für- und beugewörter“ und „das brechen der regeln“, denn die Grammatik der Liebe gehorcht anderen, unregelmäßigen Gesetzen.
Das zweite Kapitel verlegt die Dichtung an den Strand. Man mag sogleich an die belgische Küste denken, die Containerschiffe auf ihrem Weg nach Antwerpen oder Rotterdam passieren. Das Meer, so nah es ist, ist hier auch immer gleich Flucht. Da schwingt aber nicht nur die Flucht aus dem Alltag mit, bei der man sich „salzrissige lippen“ einfängt, sondern auch die große Migrationswelle über das Mittelmeer wie in dem Gedicht ionisches meer: „die kämme der wellen / verwerfen leben / um leben“. Ganz behutsam und eindringlich zugleich findet hier aktuelles Geschehen einen Weg in die Gedichte. Poesie ist hier kein Mittel, um wegzuschauen und sich zurückzuziehen, sondern um viele verschiedene Stimmungen aufzunehmen.
Und so macht es Sinn, wenn Bail im dritten Kapitel wieder zurück nach Hause findet, zurückkommt in den Herbst. Aber was bleibt übrig von den guten Sommertagen, fragen wir uns selbst. Die Frau im Gedicht anfänge von herbst hat Strategien parat. Sie wirft Steine ins Wasser und schaut unter die Sohlen, ob noch was vom Sommer übrig sei: „unter die/ schuh hat sie schiffsplanken / genagelt festgezurrt die / rollende see“. Auf diese Weise wir das Meer ihr ständiger Begleiter.
Dem Du und dem Wir, die häufig die Gedichte bestimmen, wird manchmal auch ein Er zur Seite gestellt. Eine Vater- oder Großvaterfigur, jedenfalls jemand, der näher dem Haus und dem Garten verbunden ist, einer für den Städter etwas fremd gewordenen Welt, wo Äste geschnitten, Pilze gesammelt werden („tritt nicht auf die pilze“), aber auch „staub in die ritzen / zurückkehrt“. Ein Mann, der sich bei Regen ans Grab seiner Frau setzt. Er war „ihren atemzügen gefolgt den / falten entlang“. Oder in einem anderen Gedicht, ist er der Schlaflose, der „sich aus stein denkt / … / sich den / mond in den arm wünscht“. So einfühlsame Zeilen über eine (Groß-)Vaterfigur oder die Einsamkeit eines alternden Mannes sind selten.
Etwas aus dem Korpus des Bandes fallen die Gedichte in fünften Kapitel. Sie werden konkret, kreisen um die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber immer schafft es Bail einen eher persönlichen Weg zu den Themen zu finden. Die Besetzung Luxemburgs durch Nazi-Deutschland, die Verschleppung und Ermordung der europäischen Juden, die akribische Arbeit der Gestapo werden hier beschrieben („listen widerstand folter“). Alles gipfelt in Trauerarbeit, die im kaddisch-Gedicht anklingt, und Nachgeborenen gilt: „berge geschichtet aus trauer und / lehm sie nimmt die schaufel gibt / sie von hand zu hand / eine decke aus kieseln“.
Vielleicht wird in diesen Zeilen noch etwas anderes deutlich. Die Zeilensprünge sind bei Ulrike Bail oft ungewöhnlich. Dadurch entstehen immer wieder leicht verschobene Bilder, als hielte man zwischen die Welt und sich selbst ein Glas, das das Licht bricht und alles leicht verfremdet. Es sind kurze Gedichte, die auf Geschwätzigkeit verzichten, die zu einem langsamen und genauen Lesen einladen. Aber wenn man diese Einladung annimmt, wird man reich belohnt.
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