Die Kruste der Zivilisation bedeckt nicht die ganze Erde
„Die Umstülpung der Dinge erreichte man durch Leidenschaft und Ideale. Das war der Weg, er musste nur beständig angepasst werden.“ Kein Zweifel, der junge Botaniker und Orchideenforscher Anselm hat sich allein hehren geistigen Zielen verschrieben, doch die turbulente Epoche, in der er lebt, ist dafür denkbar ungeeignet. Richard Wagners erosgeschwängerter „Tannhäuser“ wurde gerade uraufgeführt, die politische Stimmung ist angeheizt, Unruhen und Gewalttaten verwüsten Häuser und Städte — ja, es brodelt gewaltig im Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und nicht nur dort: Auf Madagaskar herrscht eine despotische Königin (die im Roman namentlich nie genannte Ranavalona I.), es kommt täglich zu den „brutalsten Handlungen, zu Folter, Enthäuten, Enthauptung“, trotzdem macht sich Anselm auf die gefährliche Suche nach einer seltenen Orchideenart, die ihm zur Reputation als Botaniker verhelfen soll.
Anselm findet auf Madagaskar allerdings etwas, das nicht mit den noch immer starren und für ihn verbindlichen Konventionen seines Jahrhunderts zu vereinbaren ist: eine Überfülle exotischer Eindrücke, Gerüche, Geschmäcker, Entgrenzung durch Drogen und nicht zuletzt die Sinnlichkeit der nackten Haut. Verena Stauffer läßt diese ferne und vergangene Welt in großer Intensität wiederauferstehen und führt Anselms Erfahrungen, Eindrücke und Verzweiflungen unmittelbar vor Augen. Sie bewahrt dabei jedoch immer den notwendigen kleinen Abstand, der nicht alles erklärt und das Geheimnisvolle respektiert. Es bleibt also offen, woran Anselms Geist letztlich zerbricht — am Übermaß der Sinnlichkeit, an der Aussicht, den einheimischen Expeditionsbegleiter Isaac verlassen zu müssen, oder an zu hoch gesteckten Idealen, an gescheiterter Anpassung des oben erwähnten Wegs?
An Bord des Schiffes zurück nach Europa glaubt Anselm, eine Orchidee wachse auf seiner Schulter. Diese Wahnvorstellung zwingt Anselms Eltern — die ungewöhnlich verständnisvollen Leute tragen die seltenen Namen Felomé und Feodor —, ihren Sohn in eine Anstalt zu bringen, wo in Gestalt von Professor Leitner und Dr. Müller zwei damals konträre Behandlungsmethoden aufeinander stoßen. Nach der Entlassung aus der Anstalt ist Anselm mit allerhand Konflikten konfrontiert, die seine seelische Gesundheit immer wieder bedrohen und auf die Probe stellen. Die akademische Karriere ist steinig und voller Widrigkeiten, die mit Anselms idealistischen Vorstellungen unvereinbar sind; die Zeitläufte werden von politischen Umstürzen geprägt, die Wissenschaft entwickelt sich und bringt bedrohlich Veränderungen mit sich. Mit einer die Umstände ignorierenden Halsstarrigkeit begibt sich Anselm nach England, um Darwins seinerzeit revolutionäre Theorie von der Fremdbefruchtung der Pflanzen durch die traditionelle Auffassung von der Selbstbefruchtung zu widerlegen. (Heute wissen wir übrigens: beides ist möglich.) Doch er wird das Opfer einer Intrige, die ihn bis ins ferne China führen soll —
Verena Stauffers Debütroman quillt über vor Fabulier- und Erzähllust. Mit großer sprachlicher Eleganz und sehr kontrolliert eingearbeiteten, peniblen Recherchen entwirft sie ein historisches Panorama, in das sie einen Protagonisten setzt, dessen Gefühlsregungen skalpellscharf analysiert werden. Dennoch ist Stauffer weit davon entfernt, einen reinen Abenteuerroman mit teilweise exotischem Anstrich zu schreiben, wenngleich Spannung und plastische Beschreibung nicht verachtet werden. Spätestens im letzten Viertel des Buchs ist zumindest leichte Skepsis angebracht, was es denn mit dem abenteuerlichen Leben des Botanikers Anselm überhaupt auf sich habe. Von gewaltigen chinesischen Dschunken mit zahlreichen verschlungenen Räumen hatte zwar bereits der arabische Reisende Ibn Battuta berichtet — dennoch mehren sich hier die Anzeichen, daß alles vielleicht nur ein Traum, eine Wahnvorstellung sein könnte. Doch wann diese letztlich beginnt, falls es sich denn um eine solche handelt — bereits auf Madagaskar, bei der Einnahme der Drogen beim Fest der Toten, oder auf dem heimfahrenden Schiff oder in der Anstalt? —, bleibt ungewiß wie so manches in dem Roman.
In dem Erzählfluß gibt es immer wieder kleine Störsignale vor allem sprachlicher Natur, die dezent auf die erzählerische Doppelbödigkeit hindeuten. Das beginnt beim Titel, der auf Anselms Leidenschaft, die Orchideen der Gattung Knabenkräuter (!) hindeutet, zugleich aber auch die griechische Bezeichnung für Hoden ist. Die Sicherheit, die das Erzählen suggeriert, wird dadurch manchmal fragil wie Anselms Seele. So schwebt der Roman zwischen halluzinatorischer Schönheit und sinnlicher Betörung, zwischen Verstand und Gefühl, Politik und Idealismus, Wissenschaft und Glauben. Ist also die Vorstellung des irdischen Paradieses, wie es am Ende entworfen wird, ein Traumgesicht und Wahngebilde oder doch vollkommen diesseitig? Dies letztlich unbeantwortet zu lassen ohne dass Enttäuschung beim Lesen aufkommt, gelingt nur der ganz großen Literatur. Und „Orchis“ gehört unbedingt dazu.
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