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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Erweitertes Kammerspiel

Yasmina Reza testet einmal mehr die Grenzen bürgerlicher Moral
Hamburg

Glücklicherweise gibt es noch die Franzosen – besonders wenn es um Literatur geht. Während sich die „Zeit“ (Ausgabe vom 26. Oktober) kürzlich ausführlich dem „unübersehbaren Boom des (deutschen) Dorfromans“ widmete, waren unsere französischen Nachbarn auf der Buchmesse mit Neuerscheinungen von Édouard Louis über Michel Houellebecq bis Virginie Despentes bestens vertreten. Und die Liste ließe sich problemlos verlängern, beispielsweise um Yasmina Reza, die ihrerseits die Bühne in Frankfurt nutzte, um die deutsche Ausgabe ihres neuen Romans „Babylon“ zu präsentieren.  

Um es gleich vorwegzunehmen: Wer auf eine Überraschung hofft, wird enttäuscht. Yasmina Reza liefert grundsolides literarisches Handwerk, wie man es von zahlreichen ihrer Bücher gewohnt ist. „Babylon“ ist weder ein Ausreißer nach oben, der es mit dem grandios-atemlosen Sarkozy-Buch „Frühmorgens, abends oder nachts“ (2008) aufnehmen könnte, noch ein Abstieg in allzu allgemeine Lebensbetrachtungen à la „Glücklich die Glücklichen“ aus dem Jahr 2014.

Im Zentrum von „Babylon“ stehen, wie so häufig bei Yasmina Reza, zwei Paare, Elisabeth und Pierre sowie Lydie und Jean-Lino. Erstere geben eine Frühlingsparty bei sich zu Hause, bei der sich Letztere gehörig in die Haare bekommen, als sich Jean-Lino lauthals und coram publico über den „Biofimmel“ seiner Frau lustig macht. Stein des Anstoßes ist ein Biohühnchen, das die beiden kürzlich in einem Restaurant bestellt hatten. Lydie wollte vom Kellner nicht nur wissen, ob das besagte Huhn vor seinem Ableben ausschließlich mit Bio-Granulat gefüttert worden sei – was dieser noch zu bejahen weiß –, sondern auch, ob es über ausreichend Auslauf verfügt habe, um auf einen Baum zu fliegen (wofür der Kellner seine Hand nicht ins Feuer legen möchte). Die Partyanekdote kulminiert in der Imitation eines flatternden Hühnchens seitens Jean-Lino und einer beleidigten Lydie. Soweit, so alltäglich, so harmlos – könnte man meinen.

Bis Jean-Lino später in der Nacht erneut bei Elisabeth und Pierre vor der Tür steht. Diesmal mit der Information, dass er Lydie soeben ermordet habe. Was zunächst für einen Witz, dann für einen Irrtum gehalten wird, stellt sich als zutreffend heraus. Ratlos steht man vor der Leiche im Abendkleid. Statt direkt die Polizei zu rufen, geht Pierre wieder ins Bett, so dass sich Elisabeth und Jean-Lino ihrerseits daran machen, die Sache in die Hand zu nehmen. Allerdings scheitert der Versuch, die tote Lydie zu entsorgen, bereits nach wenigen Metern kläglich. Das Duo wird noch im Hausflur von einer Nachbarin überrascht, die sich zwar nicht über den gewaltigen Koffern zu wundern scheint, den die beiden hinter sich herschleppen, aber doch zu viel gesehen hat, um nicht im Nachgang eins und eins zusammenzuzählen. Weswegen man sich mit einiger Verzögerung doch noch darauf verständigt, die Polizei hinzuzuziehen, die die beiden, wenig überraschend, direkt in Gewahrsam nimmt.

Ab hier beginnt eine recht konventionelle Kriminalgeschichte, die für Elisabeth glimpflich ausgeht, für Jean-Lino nicht. Fortan kümmert sich Elisabeth mit einem „dehnbaren Qualitätsschlauch“ um die Bewässerung der Balkonpflanzen des zwangsumgesiedelten Ex-Nachbarn.  

Anders als in früheren Romanen oder Theaterstücken bedient Yasmina Reza in „Babylon“ diesmal nicht die Eskalationsspirale bürgerlicher Streit(un)kultur. Anfängliche Sticheleien weiten sich nicht aus zu mehr oder weniger sublimen Anschuldigungen und schließlich unkontrollierten Hassausbrüchen; zumindest bekommt der Leser davon nichts mit. Stattdessen wird er vor vollendete Tatsachen – sprich, einen Mord – gestellt, deren Zusammenhänge sich lediglich aus der Rückschau des Täters ergeben (nachdem Lydie das Wohl des Biohuhns verteidigt hat, muss sie, glaubt man Jean Linos Version, dem geliebten Kater einen gewaltigen Tritt verpasst haben, was wiederum Jean-Lino zu der Kurzschlusshandlung veranlasste).

Daran schließt sich ein zweites bemerkenswertes Charakteristikum des Romans an, nämlich die weitgehende (moralische) Indifferenz aller Beteiligten gegenüber der grausamen Tat. Pierre will dem unerhörten Ereignis nicht seinen Nachtschlaf opfern; Elisabeth hingegen entwickelt eine regelrecht kriminelle Energie beim Versuch, die Leiche loszuwerden. Als dies nicht gelingt, windet sie sich mit einer gekonnten Lügengeschichte aus der Affäre heraus. Den Täter selbst plagt vor allem die Sorge um die Zukunft seines Katers.

Yasmina Reza spielt in ihrem neuen Roman einmal mehr mit den Grenzen bürgerlicher Moral. Dafür greift sie, wie so häufig in ihren Büchern, auf die vermutlich bürgerlichste Lebensform zurück, die Paarbeziehung zwischen Mann und Frau. Der Plot selbst ist Mittel zum Zweck und wirkt streckenweise arg konstruiert. Was einer kurzweiligen Lektüre jedoch nur bedingt Abbruch tut, da die Stärke des Buches eher auf der gekonnten Ausleuchtung (zwischen)menschlicher Eigenarten und Skurrilität liegt.

Was im Lesefluss zunächst als Seitenhieb auf aktuelle gesellschaftliche und politische Debatten daherkommt, darf in der Rückschau durchaus als eine Klammer für die gesamte Handlung verstanden werden: So betont ein Partygast, dass ihm sämtliche linke Überzeugungen nach und nach abhandenkämen – eine Aussage, die, wie er einräumt, vor wenigen Jahren noch einem gesellschaftlichen Selbstmord gleichgekommen wäre. Heute hingegen erntet er dafür zustimmendes Nicken von allen Seiten. Sowie den Hinweis eines Gegenübers, dass man derlei in Wahrheit ohnehin nie besessen habe.  

Yasmina Reza
Babylon
Übersetzt aus dem Französischen von Frank Heibert, Hinrich Schmidt-Henkel
Hanser Verlage
2017 · 224 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25651-4

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