Scheinderwische, Schamanen und Esoteriker
Manchmal ist es schwierig, den Inhalt eines Buches zusammenzufassen. Oder das Genre exakt zu bestimmen. Oder die deutsche Übersetzung zu beurteilen. Selten ist es so schwierig wie bei „Dagny oder ein Fest der Liebe“ des georgischen Autors Zurab Karumidze!
Um es gleich vorweg zu nehmen: Es ist kein biografischer Roman über Dagny Juel, die Muse August Strindbergs und Edward Munchs. Hier führt der erste Teil des Titels in die Irre. Der zweite Teil „Fest der Liebe“ kommt dem Ganzen schon näher.
Aber alles auf Anfang. Wer war die Norwegerin Dagny Juel eigentlich wirklich, wenn man sie nicht auf ihre Rolle als Künstlermuse und femme fatale reduziert? Die Schriftstellerin Dagny Juel wurde 1867 in Norwegen geboren, verfasste mehrere Dramen und eine Novelle (eine deutsche Übersetzung ihres Gesamtwerks ist für 2019 geplant). Dagny Juel studierte in Berlin, verkehrte dort in Künstler- und Studentenkreisen und heiratete den polnischen Dichter Stanisław Przybyszewski. Nach der Trennung von Przybyszewski reiste sie mit ihrem polnischen Liebhaber Władysław Emeryk nach Georgien.
An diesem Punkt setzt der georgische Schriftsteller Zurab Karumidze mit seinem Buch an. Er schildert die letzten Wochen, die Dagny in Tiflis verbrachte. Der eifersüchtige und verzweifelte Emeryk wählte Tiflis als Schauplatz eines Doppelselbstmords aus. Er erschoss erst Dagny Juel und danach sich selbst. Die „femme fatale“ wurde nur 34 Jahre alt und hinterließ zwei Kinder.
Zurab Karumidze verbindet die Ergebnisse seiner Recherchen über Dagny Juel mit überbordendem Ideenreichtum. „Das Fest der Liebe“ ist prall und orgiastisch, voller Andeutungen und versteckter Bezüge. In Tiflis, so scheint es, findet alles zusammen, was zusammenfinden musste. Die Stadt im Kaukasus gerät für einige Tage des Frühsommers 1901 zum Mittelpunkt eines wilden, wirbelnden Kosmos.
Der Autor formuliert seinen Anspruch an das Buch gleich zu Beginn und erklärt, „daß ich nicht über Dagny Juel Przybyszewski schreiben werde – ich esse sie statt dessen Ja, ich werde ihren Leib essen und ihr Blut trinken und durch diesen Akt das Tier in mir „reterritorialisieren“, um es philosophisch auszudrücken. Fortan also fungiert diese ganz besondere Frau als ganz besondere Nahrung für meine ganz besonderen Gedanken über die Liebe … und Du lieber Leser, bist herzlich willkommen zu meinem Fest der Liebe! Applaus!“
Im Folgenden erläutert Karumidze seine höchstpersönliche Memtheorie (er unterscheidet Löwen- und Leopardenmeme), spricht von Schamanen, falschen Schamanen und debilen Schamanen. Das liest sich spannend jedoch nicht immer einfach.
Alle Erzählstränge und Einschübe und Einschübe von Einschüben streben auf eine „Kosmische Agape“ hin. Dass die schamanischen Pardimeme die „Kosmische Agape“ ausgerechnet in Tiflis im Jahre 1901 stattfinden lassen, kann kein Zufall sein. So vermutet es zumindest Karumidze. Das Personal, das zu dieser Agape anreist, ist -ebenfalls kein Zufall- außerordentlich schillernd. Es treten reale Zeitgenossen wie Wascha-Pschawela, Dichter poetisch-vergeistigter Naturbeschreibungen, Niko Pirosmani, Vertreter der naiven Malerei, Georges Gurdjeff (ein zwischen Charismatiker und Scharlatan changierender Esoteriker) auf. Außerdem sind ein saturnstämmiger sprachbegabter Rabe sowie ein tibetanischer Schamane mit von der Partie. Und der junge Revolutionär Koba, der Jahre später unter seinem Kampfnamen Stalin in die Geschichtsbücher eingehen wird.
Natürlich kommt diese herrlich verwirbelte, geschwindelte und schwindlig machende Geschichte nicht ohne Bezüge auf den georgischen Nationalepos „Der Recke im Tigerfell“ aus. Karumidze würzt sein Fest der himmlischen Liebe (und die Vorbereitungen) mit Humor und packt die Geschichte voll mit Andeutungen und Bezügen, die den Leser zu einem entschleunigten und intensiven Lesen dieses vielschichtigen Textes auffordern.
Man ahnt es: Die Handlung des Buches ist verzwickt und kaum komprimierbar und nacherzählbar. Ähnlich verzwickt wäre es, „Dagny oder das Fest der Liebe“ einer Gattung zuzuordnen. Das Buch ist über viele Seiten essayistisch verfasst, enthält zahlreiche Anmerkungen und Leseranreden. Karumidze hält sich an Personendaten und zitiert aus Dagny Juels Werken. Dabei ist das Geschehen so fiktional, wie es nur geht, und findet in trubeligen und absurden Erzählsituationen statt.
Auf keiner Seite wird das Buch langweilig. Allerdings verliert man hin und wieder die Übersicht zwischen den Scheinderwischen, Schamanen und Esoterikern. Fast unnötig zu sagen, dass sich das Buch energisch jedem Versuch widersetzt, rasch oder oberflächlich gelesen zu werden. „Dagny“ gibt den Blick frei in das pulsierende, geheimnisvolle Tiflis der Jahrhundertwende und eröffnet einem viele Aspekte der georgischen Kulturgeschichte. Allerdings: Eine Annäherung an Dagny Juel gelingt durch dieses Buch eher weniger. Aber das hat der Autor ja auch nicht versprochen.
Die Übersetzung des (im Original in englischer Sprache verfassten Buches) besorgte Stefan Weidle. Sicher keine einfache Aufgabe. „Um den facettenreichen Charakter von Zurab Karumidzes Prosa im Deutschen zu erhalten“ erlaubte sich Weidle bei seiner Übertragung „an passenden Stellen Zitate aus dem deutschen Bildungskanon einzufügen.“ Im Ergebnis ist das Projekt gelungen: Ein georgischer Autor verfasst in englischer Sprache ein Buch über eine norwegische Schriftstellerin, die in Deutschland studiert und in Polen gelebt hat. Da sind in der deutschen Übertragung „Zitate aus dem deutschen Bildungskanon“ eigentlich die einzig logische Konsequenz.
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