Geistige Belebung durch Melancholie
Vermutlich ist es schon immer so gewesen, das es mehr Geschriebenes gab, dass Leser suchte, als Leser, die auf der Suche nach lesenswerten Texten waren. Trotzdem schockiert es mich immer wieder, wenn ich lese, dass wieder eine Literaturzeitschrift aufgeben musste oder auch mehr oder weniger freiwillig eingestellt worden ist, wie in diesem Jahr zum Beispiel Michael Arenz „Der Mongole wartet“, oder letztes Jahr die von Stefanie Weh herausgegebene „Descision“, um nur zwei zu nennen. Denn selbst so renommierte Literaturzeitschriften wie die „Akzente“ oder „Sinn und Form“, um die es im Folgenden gehen soll, könnten ohne Förderungen mit den durchschnittlich knapp 3000 Lesern pro Ausgabe kaum überleben. Dabei gibt es keinen Ort, an dem man sich so schnell, umfassend und unterhaltsam über den Stand der gegenwärtigen Literatur informieren kann, wie in einer Literaturzeitschrift.
Sebastian Kleinschmidt, bis zum Sommer dieses Jahres Chefredakteur der Sinn und Form, beschreibt die Aufgabe von Literaturzeitschriften in einem Interview mit Michael Hametner folgendermaßen: „Literaturzeitschriften sollten etwas für die geistige Belebung tun, sie sollten anregenden Charakter haben für Autoren, für Leser, für Wissenschaftler, für alle irgendwie geistig arbeitenden Leute.“
Das Besondere an Sinn und Form ist, dass auch bereits verstorbene Autoren zu Wort kommen. Durch die Koppelung an die Akademie für Kunst, hat die Zeitschrift Zugang zu deren Archiven, aber auch das Literaturarchiv in Marbach wird genutzt, um noch unbekannte Texte einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Auch diese Ausgabe startet mit einem toten Autor. Gaito Gasnadow, den deutsche Leser dank Rosemarie Tietzes Übersetzung dieses Jahr mit dem wunderbaren Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“ entdecken durften, macht mit der Erzählung „Schwarze Schwäne“ den Auftakt eines Heftes, in dem sich die Auseinandersetzung mit dem Tod, wie ein roter Faden durch die Texte zieht. Pawlow, der faszinierende und lebensmüde Held von Gasdanows Erzählung, entschließt sich seinem Leben ein Ende zu setzen, oder sollte man sagen, er macht sich auf eine Reise, dorthin, wo es die schwarzen Schwäne gibt?
An diese Erzählung schließt sich der von Esther Kinsky übersetzte Zyklus „Stadt der Selbstmörder“ von Darius Sosnicki an. Vom Selbstmord zu Betrachtungen über die Melancholie bis zu Canettis leidenschaftlichem Aufbegehren in seinen Notaten gegen den Tod, zeichnen die versammelten Texte eine rückläufige Bewegung vom Tod als Lösung zur Annahme des Todes als ein das Leben konstituierendes Element nach.
In den Gedichten Franz Hodjaks, bzw. in dem „Kürzere Tage“ betitelten, Verena Auffermann gewidmetem Gedicht, finde ich schließlich eine Strophe, die der sich durchziehenden Thematik Worte verleiht:
„der Sprache weht etwas
Trauer herüber, rollt die Zunge, die Stimme,
die Kraft spart, indem sie
bedächtiger spricht.“
Im theoretischen, akademischen Teil, geht es um Theorien zur Fiktion im Erzählen in Literatur und Philosophie , um poetische Konfessionen (in Form von Sarah Kirschs, 1965 verfertigter poetologischer Abschlussarbeit am Literaturinstitut Leipzig), um Richard Wagner und davon ausgehend um die Bedeutung des Hörens. Vom „glücklichen Ohr“ Sloterdijks führt der nächste Schritt in den (Klang-) Raum des chinesischen Gedichts. In der Poetik des Raums von Yang Lian fließt schließlich alles zusammen; Klang, (Schrift-) Bild und Sinn.
Der letzte, Umschau und Kritik, betitelte Teil schließt mit Cornelia Jentzschs kundigem Aufsatz zu Yang Lian direkt an. Es folgt ein schöner Beitrag des Rumänen Mircea Cartarescu, der sich gegen jeglichen Zwang, wie ein Dichter vorzugehen habe, verwehrt, und dagegen die Vielzahl der Möglichkeiten betont, mit der jeder einzelne an der Dichtung der Welt arbeiten kann.
„Es heißt, ein Affe, der auf einer Schreibmaschine unendlich lang zufällige Buchstaben anschlägt, könne schließlich dahin kommen, ein Shakespeare-Sonett zu schreiben. Genau das ist unsere Welt, jeder von uns, ihre einzelnen Teile.“
Diese Überlegung scheint auch das Konzept von Sinn und Form widerzuspiegeln, hier geht man über Staatengrenzen und diejenigen Grenzen, die die Wissenschaft von der Poesie trennen. Nur was die Geschlechter angeht, scheinen die Herren, die diese Zeitschrift herausgeben, ein Problem zu haben. Bis auf zwei Beiträge sind alle abgedruckten Texte von männlichen Autoren verfasst, wohingegen der überwiegende Anteil der Nachdichtungen und Übersetzungen sich weiblichen Autoren verdankt. Dass jene, ich spreche von Esther Kinsky, Anne Weber, Halina Nitropitsch und Anke Pfeifer, in den Anmerkungen nicht erwähnt werden, spricht zwar nicht gegen die Qualität der Zeitschrift, zeugt aber von einer Haltung, die noch immer viel zu konsensfähig ist, um aufzufallen.
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