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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Sinn und Form

Hamburg

In dieser Zeitschrift, heißt es, richten sich die Buchstaben erst sinnvoll aus, wenn der Leser ein Kord-Sakko trägt. Ich ertappe mich jedesmal beim Wunsch nach einem Schutzumschlag, wenn ich in der U-Bahn statt z.B. in der vorzeigbaren, erotisch angehauchten Bella Triste in „Sinn und Form“ lese, diesem Hardcore-Heftchen der feinen Literatur. Ich sage nur: Mosebach!

Damit beginnt das aktuelle Heft 1/2014 auch prompt, er ist ein sehr treuer Beiträger und essayiert hier – für meinen Geschmack arg mäandernd – durch das Begriffsschlachtfeld ‚Der Feind‘. Die Liste der Autoren des Hefts hat Samt und Preise genug am Revers: unter anderen Marcel Beyer, Durs Grünbein, Claude Simon, Julian Barnes, Lepenies und mit einer kleinen, aparten Rede Menasse: da bezweifle noch jemand, dass die Lektüre einer Zeitschrift so manchen Roman spart.

Aber allen großen Namen zum Trotz, der anrührendste Text des Heftes ist für mich die Kurzgeschichte ‚Die Bäuche‘ von Félix Fenéon (1861-1944), ein französischer – tja was? – Journalist, Feuilletonist, Anarchist, Künstler, Kunstförderer? Wer sich mit Neo-Impressionismus auskennt oder zum exklusiven Zirkel derjenigen zählt, die die Originalfiguren zu Toulouse-Lautrecs Bildern benennen kann, dem wird der Name etwas sagen. Julian Barnes stellt ihn in einem langen Aufsatz auf herzerfrischend humorige Weise vor, eine Figur, die als Redakteur für seine Zeitung häufig Kurznachrichten aufzubereiten hatte und dabei aus den ‚Nouvelles en trois lignes‘ die Kunstform der ‚Novel in three lines‘ erfand, was dann gelegentlich in heute verpönte drastische Formen ausartete: „Nach der Lektüre des Buchs von Samuel Smile (>Erkenne dich selbst<) zutiefst von sich angewidert, hat sich ein Richter in Coulange-la-Vineuse soeben ertränkt. Könnte dieses ausgezeichnete Buch doch in der gesamten Richterschaft gelesen werden.“ Ein anderes Beispiel, von mir aus dem Nachahmer Twitter stibitzt, wo sich 1.500 dieser Kurztexte finden lassen:

„To get back together with Artémise Riso, of Les Lilas, was the wish of romantic Jean Voul. She remained inflexible. So he knifed her.“

Dazu eine Erstübersetzung eines begeisternden Textes von Virginia Woolf „Im Flug über London“, literarisch kann man von einer Zeitschrift kaum mehr erhoffen. Sogar die Veganer unter den Literaturverspeisern, die Lyriker, werden versorgt, Jan Wagner ist ins Sakko geschlüpft und hat in geradezu klassischer Manier ‚nach Canaletto‘ Venedig besungen, auch Jean Krier und Anton Schlösser sind vertreten.

Ein kleiner Schwerpunkt bildet Claude Simon, sein Essay ‚Novelli und das Problem der Sprache‘ liegt in Erstübersetzung bei, eine Einführung von Marcel Beyer ‚Blatt, Baracke, Borke, Bordell‘ stellt den Text in einen weiteren Kontext.

Nicht unterschlagen werden soll Durs Grünbeins ‚Der kluge Hans‘, eine Revue über das zu Kafkas Zeiten populäre schlaue Rechenpferd und seine möglichen Widerspiegelungen in Kafkas Motivik. Dazu kommen, wie meistens, einige eher germanistisch angehauchte Arbeiten, eine Gymnasialarbeit von Felix Hartlaub, deren Bedeutsamkeit sich mir nicht recht erschließen wollte, ein Interview mit seiner Schwester aus dem Jahre 1986, nu, manchmal bleibt was liegen, nech, was sind literarisch gesehen 28 Jahre?  Und Sinn und Form, herausgegeben von der Akademie der Künste, hat schließlich nicht nur Laienleser wie unsereins zu erfreuen, was in diesem Heft erstaunlich gut gelungen ist, ich fühlte mich weit über die Geldentlastung hinaus bereichert.

Akademie der Künste (Hg.)
Sinn und Form
Mosebach, Martin, Bürger, Peter, Grünbein Durs, Petrow Wsewolod, Hartlaub Felix, Corino Karl, Wagner Jan, Schlösser Anton, Krier Jean, Simon Claude Beyer Marcel, Woolf Virginia, Barnes Julian, Fénéon Félix, Lepenies Wolf, Flügge Manfred, Menasse Robert.
Akademie der Künste
2014 · 9,00 Euro
ISBN:
978-3-943297-15-7

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