Verhinderte Kanopengötter
Ich habe bei Wikipedia nachgesehen und erfuhr: „Kebechsehnuef (auch Quebehsenuef) war einer der vier Horussöhne und Kanopengötter, die die mumifizierten Eingeweide beschützten. Als seine Eltern gelten der Gott Horus der Ältere (Haroeris) und die Göttin Isis.“ Ein falkenköpfiger, ägyptischer „Schutzgott der Toten“ also, „Helfer beim Aufstieg in den Himmel“ obendrein. Nach ihm benannte Alexander Graeff seinen dritten, im Verlagshaus J. Frank erschienenen Band. Darin versammelt sind sechs Erzählungen, die sich um recht eigenwillige Figuren drehen. Allen voran Adam Kardamom, Protagonist der titelgebenden Geschichte, der bereits mit Einsetzen der Handlung nicht mehr unter den Lebenden weilt, aber mit seiner Schwester Lili durch posthum gefundene Briefe zu kommunizieren scheint. Darin beschreibt er vor allem seine Orientierungslosigkeit, die Suche nach einem Platz im Leben und die Versuche, sich seiner Schwester und dem Rest der Welt verständlich zu machen. Adam, der Sonderling der Familie, enttäuschender Sohn und Bruder aus einer anderen Zeit; seine Briefe wirken wie aus dem Jenseits abgeschickt.
Es ist diese besondere Erzählhaltung, die man vor allem aus der klassischen Moderne kennt, und die den Reiz der Erzählungen von Kebehsenuf ausmacht. Graeff lässt seine Figuren die Möglichkeiten von Sprache und Kommunikation ausloten und verzichtet dabei weitgehend auf klassische Plots oder Spannungsbögen. Vielmehr hält er in seinen Text von Anfang bis Ende eine gleichbleibende und damit unbestimmte, bisweilen bedrohliche Spannung aufrecht. Das erreicht er, indem er mit souveräner Doppelstimme philosophische Reflexionen und erzählende Passagen gleichberechtigt wirken lässt und miteinander verknüpft. Somit wird nicht nur das Leben, sondern auch das Sprechen vom Leben seiner Protagonisten zum alles entscheidenden Thema in Graeffs Prosa.
Nicht zum Selbstzweck oder aus ästhetischer Spielerei, sondern aus einer aktuellen Dringlichkeit heraus erzählt Graeff von orientierungslosen, bindungs- und kommunikationsunfähigen Söhnen (und Töchtern) um die Dreißig, die sich überall in der Welt immer etwas fehl am Platz fühlen. Ein Verfahren, in dem die Rezeption einer ganzen Epoche deutlich wird. In seinem Nachwort zu Kebehsenuf formuliert es Jan Kuhlbrodt so: „Manchen mögen vielleicht ... Graeffs Texte ein wenig merkwürdig vorkommen, so als wären sie aus der Zeit gefallen. Aber das, was man als vermeintlichen Anachronismus auffassen könnte, ist die längst fällige Anknüpfung an verschüttete Traditionen.“
Diese Anknüpfung zeigt sich auch im Stil der Erzählungen, der stark geprägt ist von Innensichten, Gedankenströmen und –sprüngen und nicht zuletzt immer wieder aufblitzenden essayistischen Momenten, die den philosophischen Charakter der Texte unterstreichen. Graeff ist sich allerdings der Tatsache bewusst, dass ein philosophisch geprägtes Erzählen mitunter die Aufmerksamkeit und Geduld des Lesers strapazieren kann. Doch solche Bedenken weiß er durch verschiedene metafiktionale Plädoyers zu entkräften, die hin und wieder in die Geschichten einfließen und sich besonders schön in Dialog in einem Zug nach Warschau lesen. „Das fehlte ihm noch: Er war an einen Philosophen geraten. Er verfluchte die Figuren mit dem verhassten, philosophischen Bewusstsein. Was soll ich tun? Nur diese Figuren treiben die Geschichte voran.“
Manchmal scheint ihr philosophisches Bewusstsein die Figuren selbst zu quälen, wie etwa den Protagonisten in Schlaf mich weg, der sich mit einem Experiment schrittweise an 24 Stunden Schlaf pro Tag heranarbeitet und so der Welt entflieht. Allerdings lässt Graeff seine Figuren nicht immer als nerdige Grübler vereinsamen. In Urlauber schafft es zum Beispiel ein introvertierter Charakter mit vier Freunden im Sommerurlaub auf Sizilien das Beste aus seiner Situation zu machen. Hier ist er zumindest für einen begrenzten Zeitraum in einer durchaus lebenswerten Welt aufgehoben; auf einer Insel, in einer Kanope, bewacht von Kebehsenuf in Gestalt eines streunenden Hundes.
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