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Kritik

Ein Olivenhain, vernachlässigt, aber in gutem Zustand

Alida Bremer hat einen großen Familienliebesroman geschrieben
Hamburg

Das Attentat von Sarajevo und der Beginn des Ersten Weltkriegs liegen jetzt hundert Jahre zurück. Hundert Jahre, das sind etwas mehr als drei Generationen. Drei Generationen aber sind die Spanne, die die persönliche Erinnerung von der Historie trennt. Von der Geschichte, die uns so weit entfernt und vergangen vorkommt, als hätte sie mit uns und unserem Leben nichts zu tun.

Die Welt von Großeltern und Eltern haben wir noch geteilt, wir sind in ihr aufgewachsen, mit ihr verbinden wir mehr als Zahlen und Bilder und Texte, wie sie uns in Museen und auf Erinnerungstafeln und in Büchern begegnen, ihre untergegangene, für uns nicht mehr teilbare Welt ist nicht nur einfach die Zeit, die vor unserer Geburt liegt – unerreichbar, als befände sie sich auf einem anderen Planeten, sondern ist untermischt mit Gefühlen, Gerüchen, mit Geräuschen und Tönen, Gewohnheiten und Sprechweisen, mit Ritualen, Spielen, Gegenständen. Mit all dem Sinnlichen, das aus einer alten, aber noch nicht ganz untergegangenen Welt in unsere hinüberragt. Erst nach hundert Jahren ist sie wirklich vorbei. Abgeschlossen und Geschichte. Stoff für Historiker.

Dabei ist die Geschichte eigentlich natürlich immer beides – großes Weltereignis und Summe der subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen. Von den einen erfährt man aus den Geschichtsbüchern, von den anderen aus Tagebüchern, Familienfotoalben, Briefen und den vielen Geschichten, die in den Familien beim Kochen und Essen, an der Bettkante oder bei Spaziergängen erzählt werden. In unzähligen Versionen, denn jede Erzählerin hat ihre, jeder Erzähler seine. Bruchstücke, die man nach und nach zusammensetzt, verschiebt, ergänzt, aus denen man nach und nach eine eigene Textur webt.

Und manchmal entsteht aus dieser Textur nicht nur eine neue mündliche Erzählung, in der Fakten und Fiktion vermischt an die nächste Generation weitergegeben werden, sondern ein epischer Text. Wie bei Alida Bremer, die in dem Roman „Olivas Garten“ die Geschichte ihrer Familie und die Geschichte Kroatiens im 20. Jahrhundert erzählt. Eine Rekonstruktion der Vergangenheit, der Versuch einer Rekonstruktion der Vergangenheit.

Anlass ist ein Erbe. 18 Jahre nach dem Tod der Großmutter Oliva erfährt die Erzählerin, dass sie einen Hain mit zweihundert Olivenbäumen geerbt habe, „vernachlässigt, aber in gutem Zustand“. Sie brauche „nur“ nachzuweisen, dass das Grundstück der Großmutter rechtmäßig gehört habe – was bedeutet, sich auf ein nahezu endloses Prozedere mit Behörden, Grundbuchämtern, Rechtsanwälten und Archiven einzulassen, um den Nachweis zu erbringen, dass alle anderen Anspruchsberechtigten entweder tot sind oder auf ihren Anteil am Erbe verzichten.

Ohne Rechtsanwalt und Vor-Ort-Sein geht da nichts, und so reist die Erzählerin immer wieder nach Kroatien. Die mühsame, in der Gegenwart angesiedelte Dokumentenbeschaffung bildet aber nur den Rahmen für die eigentliche Reise, weit zurück in die Vergangenheit, zu den eigenen Wurzeln und den Geheimnissen der Familiengeschichte. Die Erzählerin, die zwar mit der Autorin nicht identisch ist, aber viele biographische Elemente mit ihr teilt, lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Sie hält über Telefonate, Internet und durch Besuche Kontakt zu Eltern und Tanten, ihr Zuhause aber ist nicht mehr Split an der sonnigen dalmatinischen Küste, sondern das allzu oft graue Münster in Westfalen – so mahnt ihr deutscher Ehemann, als sie, auf Spurensuche in der alten Heimat, umgeben von den seit Kindertagen vertrauten Gerüchen, zu vergessen droht, wohin sie, die Migrantin, inzwischen gehört.

Im Mittelpunkt des Romans stehen die Frauen. Über die lange Kette von Enkelin, Tochter, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter wird die Geschichte der Familie erzählt, deren Leben mit dem im Ersten Weltkrieg untergegangenen Habsburgerreich, dem nach dem Krieg gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dem faschistischen Ustascha-Regime, mit Partisanenkampf und dem sozialistischen Tito-Jugoslawien verbunden ist, das 1991 zerfiel und aus dem sich erst 1995, nach einem blutigen Krieg mit Serbien, die Republik Kroatien bildete. Es ist eine Geschichte weiblicher Selbstbehauptung und weiblichen Widerstands – innerhalb der Familie und gegenüber den wechselnden staatlichen Systemen, die immerfort in das Private hineingreifen, mal mehr, mal weniger repressiv, während des Faschismus offen brutal. Die Familie stand auf Seiten der Kommunisten, die Männer kämpften als Partisanen, hätten diesen Kampf aber ohne die Frauen, die sie mit Essen, Unterschlupf, Kleidung, Botengängen unterstützten, nie führen können.

Die weibliche Seite des antifaschistischen Widerstands steht noch immer im Schatten des männlich dominierten militärischen Kampfes. Dabei haben die Frauen nicht nur gehungert, gefroren, geschwitzt, gelitten wie die Männer, sie wurden auch ebenso Opfer: verschleppt, gefoltert, getötet. Der Zusammenhalt der Frauen, ihr Mut und ihr Durchhaltewille waren überlebensnotwendig, ohne sie wären die Kinder, unter ihnen die Eltern der Erzählerin, nicht durchgekommen, würde es die Erzählerin und ihre Erzählung nicht geben.

Die erlittenen Traumata reichen bis in die Enkelgeneration. Durch Vertreibung und Lager ausgelöste Verlustängste, Schwermut, der nicht zu stillende Hunger, gegen den die Mutter Kette raucht und der Vater sein Leben lang ankocht. Gegen sie hilft nichts – nur die Liebe, die diesen Roman durchwirkt von Generation zu Generation, und die lebendig gehaltene Erinnerung an all die Menschen, die gelitten und gekämpft haben, leiden und kämpfen, um sich selbst und die, die sie lieben, durchzubringen: mit aufwendig zubereiteten Speisen und mit Geschichten.

Alida Bremer hat nicht nur einen Roman geschrieben, sie hat ihrer Familie und dem was die große grausame Geschichte des 20. Jahrhunderts für sie bedeutete, ein Denkmal gesetzt. Keine protzige, auftrumpfende, mit in den Himmel gereckte Faust. Ihre Sprache ist trocken, schlicht, erinnert an Natalia Ginzburg, die italienische Nachkriegsautorin, die alles „Getue“ ablehnte. Aber sie ist wärmer im Ton und voll liebevollen Humors.  Vielleicht weil der Abstand der Autorin zu den geschilderten Ereignissen größer ist, Krieg, Lager, Vertreibung nicht am eigenen Leib erlitten wurden.

Und vielleicht auch, weil Bremer den Roman nicht in ihrer Muttersprache geschrieben hat, sondern auf Deutsch. Wie das neue Zuhause eine Distanz schafft zur alten Heimat, nicht nur räumlich, sondern auch emotional und mental, so die fremde Schriftsprache zur mündlichen Erzähltradition der Familie. Die Distanz erlaubt, die Dinge, die Menschen, das fremdgewordene Vertraute, nach dem man sich zurücksehnt, obwohl oder gerade weil man weiß, dass es unwiederbringlich ist, schärfer zu sehen, es aus wechselnden Perspektiven zu prüfen.

Auch die Erzählerin (und damit ist sowohl die im Roman als auch die Autorin gemeint) hat einen Verlust erlitten, der, je älter sie wird, desto mehr schmerzt. Im Unterschied zu ihren Vorfahren ist ihr Exil zwar freiwillig gewählt, aber auch sie zahlt einen Preis. Der Wunsch, wie Alida mit dem geerbten Olivenhain, ein Stück Heimat zurückzugewinnen, sich im alten Boden neu zu verankern, wiederzuverwurzeln, diesen Wunsch hat wohl jeder Migrant. Erfüllen lässt er sich nicht. Der Migrant ist gezwungen, sich einzurichten auf dem schmalen Grat zwischen dem Zurückgelassenen und dem Neu-Gewonnenen, zwischen der alten Heimat und dem neuen Zuhause. Es fällt ihm schwer. Er muss sagen, anerkennen: hier ist mein Platz, auf der Schwelle zwischen beiden Welten. Dieser Platz aber ist der Ort, wo erzählt wird. 

Alida Bremer
Olivas Garten
Eichborn
2013 · 320 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-8479-0536-3

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