„Wohin nur weitergehn abseits der Gleise…“
Außenseiter, Dandy, russischer Emigrant, Dichter: mit einer vorbildlichen Edition bietet der Ammann-Verlag Gelegenheit, einen vergessenen Lyriker neu zu entdecken: Anatol von Steiger (1907- 1944). Felix Phillip Ingold hat jetzt seine Gedichte neu übersetzt und kompetent herausgegeben.
Darf man einen Lyriker zu empfehlen, von dem man im Sprachlichen nicht hundertprozentig überzeugt ist, sein kann? Vielleicht muss man es sogar, wenn nach langer Beschäftigung doch die Faszination überwiegt, wenn man sich dabei ertappt, die Gedichte immer wieder zu lesen, obwohl anfangs ein deutlicher Widerstand zu spüren war: so wie es mir mit den Gedichten Anatol von Steigers erging, dessen lyrisches Gesamtwerk nun erstmals unter dem Titel „Dieses Leben“ im Ammann- Verlag vorliegt.
Dabei steht außer Frage, dass eine Beschäftigung mit dem eigenwilligen Autor lohnt. Bereits seine Biographie lässt aufhorchen. 1907 in Russland geboren und dort auch aufgewachsen, aber als Nachkomme eines Berner Adelsgeschlechts mit der Schweizer Staatsbürgerschaft versehen, verbringt Anatol von Steiger einen Großteil seines kurzen Lebens in der Emigration, lebt ab 1927 in Paris, ist ständig auf Reisen und ohne festen Wohnsitz: ein Abenteurer, Dandy und Herumtreiber. Er kokettiert mit seinem noblen Außenseitertum, versteht es, sich extravagant zu inszenieren, kleidet sich selbstbewusst androgyn. In den Texten bekennt er sich offen zu seinen homosexuellen Vorlieben: eine Biographie, die in der heutigen Zeit den Ruf als Kultautor begünstigen würde. Der Verwandtschaft ist das unstete Leben des Schriftstellers damals jedoch wenig geheuer gewesen. Nach dem frühen Tod des Dichters im Jahre 1944 versuchen die Angehörigen, Anatol von Steigers Lebensspuren zu verwischen, indem sie sein Archiv vernichten. Dennoch bekommen wir im Band „Dieses Leben“ ein eindrucksvolles Bild dieses Sonderlings vermittelt, denn Herausgeber Felix Phillip Ingold versteht es in seiner Einführung (über einhundert Seiten umfassend!), das Leben Anatol von Steigers anhand der verbliebenen Quellen mit großem Sachverstand zu rekonstruieren. Hierbei ist die Arbeit des Herausgebers vorbildhaft. Fast nebenbei erhält der Leser mit diesem Band am Beispiel von Paris eine kleine Geschichte der Emigration russischer adliger Intellektueller nach dem Zusammenbruch der Konterrevolution gegen den Kommunismus. Wir erfahren viel über die Versuche russischer Emigranten, in den Metropolen Europas Fuß zu fassen, über ihre Zerrissenheit zwischen demokratischem Denken und dem Bekenntnis zur Monarchie, über gesteigerten Nationalismus und den Wunsch, sich die russische Heimat in der Sprache zu bewahren. Der Band ist mit zahllosen Abbildungen und Dokumenten versehen, die eingefügten Auszüge aus Prosaskizzen Anatol von Steigers führen uns das Milieu der russischen Intellektuellen anschaulich vor Augen. Schon deshalb ist das Buch jedem zu empfehlen, der sich für die russische Dichtung der Moderne interessiert.
Und was gäbe es alles aus dem Leben Anatol von Steigers zu berichten! 1907 in Russland als unehelicher Sohn eines russischen Provinzadligen geboren, wächst der kleine Anatol zunächst in einer behüteten, weiblichen Welt auf: er spielt mit Puppen, seine Mutter kleidet ihn wie ein Mädchen, seine Freundinnen flechten ihm Zöpfe ins lange Haar. Nachdem die Familie aus der russischen Provinz nach Sankt Petersburg übersiedelt, wird Anatol schon bald sowohl seiner Heimat als auch aus seiner heilen Kinderwelt beraubt. Der Vater besteht auf eine strenge Erziehung, die Locken werden abgeschnitten, der Sohn in eine Matrosenuniform gezwängt. Nach Ausbruch der kommunistischen Revolution muss die Familie vor den Bolschewiki ins Ausland flüchten, verliert dabei ihren ganzen Besitz. Die Emigration führt die Steigers über Istanbul 1923 in die Tschechoslowakei, wo Anatol ein russisches Gymnasium besucht. Er wird sich während der Gymnasialzeit nicht nur seiner Homosexualität bewusst, sondern verschreibt sich auch so fanatisch und aussichtslos dem Lebensentwurf als Schriftsteller, dass es zum Schmunzeln nötigt: mittellos und chronisch tuberkulosekrank verlässt er zwanzigjährig seine Familie, um in Paris, damals ein wichtiges Zentrum der russischen Diaspora, mit fremdsprachigen Gedichten eine Existenz als Schriftsteller aufzubauen. Die dichterische Sprache soll ihm nun dazu dienen, seine verlorene Heimat Russland wiederzugewinnen, haben doch russische Emigranten Paris kurzerhand zum neuen Moskau erklärt und träumen nun davon, in Frankreich einen neuen „russischen Parnaß“ kraft ihrer Poesie zu errichten. Ein breites Publikum für seine russischsprachigen Gedichte findet Anatol von Steiger jedoch weder in der Heimat, wo seine Texte der Zensur zum Opfer fallen würden, noch in Paris, da die meisten russischen Emigranten ungebildet, ja sogar Analphabeten sind. Doch auch die russischen Intellektuellen verweigern ihm die Anerkennung als Schriftsteller. Als Lyriker oftmals belächelt, aufgrund seiner vornehmen Erscheinung jedoch geduldet, bleibt Anatol von Steiger zeitlebens ein Außenseiter unter Außenseitern.
Womit wir bei seinen Gedichten wären. Ein befreundeter Autor und Förderer, Georgij Adamowitsch, sagte über den schmächtigen Dichter: man hätte „bloß pusten müssen, und nichts von ihm wäre übriggeblieben.“ Dieser Spruch ließe sich auch problemlos auf die Lyrik Anatol von Steigers anwenden. Fast beiläufig kommen die Gedichte daher und sind von einer ausgestellten Schlichtheit, die einige Leser verunsichern könnte:
Wenn wir an solchen Tagen auf dem Land
Nach etwas suchen (aber was?) in der Natur,
Sind wir allein auf weiter Flur?
Richtig – dies ist ein abgeschlossener Text. Mehr Zutaten braucht Anatol von Steiger nicht für seine Poesie. Aber ist dies schon ein Gedicht – oder nicht eher eine unvollendete Prosaskizze, ein Gedankensplitter, der eher auf einem Notizblock zu erwarten wäre als in einer Lyriksammlung? Selbst in heutigen Analogien müsste ein derartiger Text aufgrund seiner schlichten Nonchalance provozieren. Das Gedicht ist ein extremes Beispiel Steigerscher Sprachverknappung, verdeutlicht jedoch sehr anschaulich sein lyrisches Verfahren. Fast alle Gedichte sind titellos, setzen ebenso unvermittelt ein wie sie ausklingen – eine Lyrik, die sich am Rand des Sagbaren bewegt und jederzeit zu verstummen droht. Viele Texte bestehen nur aus einer einzigen Strophe oder aus zwei Strophen. Herausgeber Felix Phillip Ingold bezeichnet demnach auch die Gedichte als „lyrische Notate“: „wie hingetupft, nebenbei gesprochen, laut gedacht und gleich verweht“. Die Kunstfertigkeit dieser Sprachgebilde ist jedoch nicht zu unterschätzen. Formal bewegen sich die Gedichte mit ihrer Tendenz zur Betonung des Endreims und vierhebigen jambischen oder trochäischen Versen in der Nähe zum Volkslied – eine Art fingierte Einfachheit, die wir auch bei den Romantikern beobachten konnten, jedoch sehr bewusst gestaltet ist. Die daraus resultierende Monotonie der Verse wird durch kunstvolle rhetorische Figuren gebrochen.
Inhaltlich spiegeln die Gedichte Anatol von Steigers eine ähnliche Zerrissenheit wieder, die auch für sein Leben und Denken prägend ist. In ihnen überwiegt ein melancholischer Kammerton, häufig in klagender oder anklagender Haltung vorgetragen, auch die Lust an der Vergeblichkeit – Klage ob des verlorenen Glücks und der verlorenen Heimat sind häufige Motive. Zugleich aber halten die Gedichte auch Glücksmomente bereit, oftmals nur flüchtig und momenthaft, aber es gibt sie. Glück verbindet sich mit einer einzigen Geste, dem Klang einer Stimme, dem plötzlichen Berühren einer Schulter:
Längst hat der Tag die Nacht übermannt,
Ich habe wieder kein Auge geschlossen.
Etwas muß dran gewesen sein – am Klang
Jener Stimme, am Witz jener Glossen.…es aber in Wort zu fassen ist schwer,
Wie sollte man es also sehn und liebgewinnen…
Man behält es für sich, gibt´ s nicht her,
Um sich später, im Grab zu entsinnen.
Es ist eine hoffnungsfrohe Hoffnungslosigkeit, die Anatol von Steigers Texte kennzeichnet. Auch motivisch spiegelt sich diese Zerrissenheit wieder: während der Lyriker in der fragmentarischen Ausgestaltung der Gedichte modern und radikal ist, sind seine Metaphern mitunter konventionell und eher einer dörflichen Dichtung entnommen: die Großstadt findet in seinen Versen kaum statt. Und auch wenn die Sehnsucht nach dem fernen Russland immer wieder in den Gedichten zum Ausdruck kommt, so ist Anatol von Steiger doch nicht Träumer genug, um sich der Verklärung seiner früheren Heimat hinzugeben. Während er sich in Paris als überzeugter Aristokrat in der jungrussischen Bewegung (Mladorossy) engagiert, die sich für die Aufrechterhaltung der Monarchie einsetzt, so ist Anatol von Steiger doch zugleich Gegner eines übersteigerten Nationalismus und erkennt bei seinem Deutschlandbesuch früh die schändlichen Auswirkungen des deutschen Faschismus: „Das dritte Reich vermittelt mir den Eindruck eines Irrenhauses – Heidentum, rassistische Konsequenzen in Wissenschaft, Gesetzgebung und Alltag – sowie eines Armeelagers. (…) die Deutschen –alle– wollen den Krieg“, so formuliert er 1935 in einem Brief. Da seine Gedichte ohne die Erfahrung der Diaspora nicht denkbar wären, sind sie trotz ihrer intimen Momente auch politisch zu interpretieren.
Am stärksten sind die Gedichte immer dann, wenn sie ihren Ausgangspunkt im subjektiven Erleben nehmen, etwa eine kleine Geste, um das Beobachtete aphorismenhaft zu verdichten. Es wäre noch genau zu untersuchen, wie sich das Verhältnis von subjektiver Betrachtungsweise und Verallgemeinerungen in der Lyrik Anatol von Steigers gestaltet, sind die Gedichte doch ähnlich im subjektiven Erleben verwurzelt wie beispielsweise die Lyrik Herta Kräftners, zugleich aber auch ähnlich als symbolhaftes und verallgemeinerndes Sprechen zu werten, etwa am russischen Symbolismus geschult. Dass Lebenszeugnisse immer schon vom Verschwinden bedroht sind und biographische Momente nur schwer vermittelbar, war dem Dichter hierbei durchaus bewusst:
Zum Abschied werden wir ein Feuer machen
Für Briefe, Fotos und das Tagebuch.
Sie sollen brennen…
Man mag es wie ein Krematorium betrachten,
Rauch überm Garten, ferner Brandgeruch.
Was von der Lyrik bleibt, sind letztendlich Bilder wie ein Rauch, den man von weitem am Geruch erkennen kann und zugleich die sinnliche Wahrnehmung von Zerstörung - ob das viel ist oder wenig.
Fixpoetry 2009
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben