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Kritik

Brücken über den Sprachfluss

Hamburg

Was ist Schreiben anderes als Brücken zu schlagen; von der bloßen Rede zum Gesang, von der Benennung der Tatsachen zur Formulierung des Dennoch?

„In meinen Träumen bin ich orpheisch naiv und unsterblich. Daß Orpheus scheitern mußte, es ist mir egal. Wir rennen den falschen Heilanden nach. Aber vielleicht bin ich deshalb unter die Schreiber gegangen: um diese unvorstellbare Weite zwischen dem Bleiben und dem sicheren Ende eine Zeitlang zu überbrücken“, schreibt André Schinkel in „Das Karma der Unendlichkeit“ und benennt damit den Kern von „Parlando“. Dieser Streifzug durch zwanzig Jahre Schaffen (die vorliegenden Texte sind zwischen 1991 und 2011 entstanden), umfasst Gedichte, poetische Prosa und Essays. Mit diesen Texten wird dem Leser eine Brücke aus Schrift bereitgestellt, von der er vorwärts oder rückwärts schauen kann, aber auch in die Tiefe. Drei Möglichkeiten, drei Farben, vier Stiche und die Kunst, das alles zu einem „Parlando“ zusammenzuführen.

Schinkel verfügt über eine bildhafte Sprache, morbide und dunkel, wie die Stiche. Schwarz, blau und weiß sind die Farben in denen das Buch gedruckt ist. Und das ist kein Zufall und hat auch nicht nur ästhetische Gründe, in diesen Farben spielen die Texte, spiegeln sich die Tonarten wider.

Einer meiner Lieblingstexte ist das Gedicht „Sommerserife“

Die Zeit vergeht, Geliebte, mit dem Bauch aus
Wanderdünen. Seitdem ich die polternden Herzen
Gehört hab' in der Maschine, bin ich ein Vater.
Mich rührt nichts mehr wie deine Liebe und
Die der zappelnden Kinder in dir. Die Zeit vergeht,
Und wir verändern uns, daß mir angst wird
Manchmal vor erdrückender Freude. Das ist neu
Und auch das: diese Nächte in einer
Entseelten Wohnung, wenn du in anderer
Obhut liegst, ich halte sie aus für dich.
Das ist ein seltenes Glück in diesem weg-
Brechenden Jahrhundert... derweil mit uns
Die Zeit vergeht und vergeht.

Kommendes und Vergehen, zusammengehalten von der Liebe. Im Grunde geht es bei allen Texten darum. Um die nicht aufzuhaltende Vergänglichkeit und die nicht endenden Bemühungen dieser Vergänglichkeit die Sprache, den Gesang, entgegenzusetzen. Wohl wissend, dass man scheitert, scheitern muss.

„Ich sitze und ringe, wie es meine traurige Bestimmung ist, mit der Stirn gegen die Welt an“, heißt es in „Wüstung“.

Karl-Georg Hirsch hat den Band mit vier Graphiken mit gestaltet. Der Brücke sozusagen ein Geländer verliehen, am dem der Leser sich festhalten kann, um tiefer hinab oder weiter hinaus zu schauen. Hirsch Stiche sind nicht einfach nur Illustrationen, sondern erweitern die Texte, eröffnen eine weitere Dimension.

Trotz zahlreicher Veröffentlichungen und Übersetzungen seiner Texte in mehrere Sprachen, ist Schinkel „nur wenigen ein Begriff“, schreibt Jens-Fietje Dwars im Nachwort des von ihm herausgegebenen Band 10 der Edition ornamente. „Anders als Hilbigs Abwesenheit in der DDR ist die seine keiner Ideologie geschuldet. Die Zensur des Marktes arbeitet sublimer, doch nicht weniger effektiv.“

Um so wichtiger sind die kleinen Verlage, die das Besondere entdecken und fördern und ihm einen Raum geben, in dem es sich entfalten kann. Die wiederum Brücken schlagen vom Text zum Leser.

Parlando erzählt davon, dass Gedichte einen Austritt aus der Welt bedeuten, ein Überschreiten der Vernunft und somit eine Brücke schlagen zwischen Sehnsucht und Verzweiflung. Kann sein, dass man von dieser Brücke aus, die Stelle wiederfindet, an der diese „reparaturbedürftige Welt“ unvergänglich schön ist.

André Schinkel · Jens-Fietje Dwars (Hg.)
Parlando
Vierundvierzig Texte
Grafiken: Karl-Georg Hirsch, Nachwort: Jens-Fietje Dwars
quartus
2012 · 96 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-943768015

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