Ein Mord, den ein anderer begangen hat
Dass Gewalt in der Regel aus dem Elend komm und nicht aus dem Überdruss, ist eine ältere, oft vergessene Wahrheit. Und diese spricht nicht gegen die Gewalttätigen, sondern gegen das Elend, das sie hervorbringt. Davon betroffen sind auch die Industrie- und Konsumgesellschaften, eben nicht nur in ihren Spätformen, die wir vielleicht heute erleben, sondern auch in jenen Fassungen, in denen die spätere Entwicklung erkennbar ist, aber eben noch nicht voll entwickelt.
Die 1920er Jahre in Deutschland (wie im übrigen Europa) sind eine solche Zeit: Die Urbanisierung und Industrialisierung war bereits weit fortgeschritten, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München hatten ihre heutige Größe erreicht und Menschenmassen angezogen, wie es sich frühere Generationen nicht einmal hätten vorstellen können. Die mittleren Städte zogen langsam nach. Das heutige Wohlstands- und Konsumniveau gibt es dagegen bestenfalls als Versprechen, nicht jedoch als Realität. Der Blick in die Wohnungen des Kleinbürgertums zeigt vor allem noch die relative Enge und die geringen Ressourcen, die dieser aufsteigenden und aufsteigewilligen sozialen Schicht zur Verfügung stehen.
Man wird das vielleicht nicht Elend nennen wollen, die Spannung zwischen dem, was möglich scheint, und dem was möglich ist, ist aber derart groß, dass das Verbrechen in die Ritzen schlüpfen kann, die sich im Gefüge einer Gesellschaft in einem derartigen Zustand auftun. Hinzu kommt einiges mehr wie die Brüche und Zwänge in den sozialen Rollen, gerade auch was Männer und Frauen angeht, der wirtschaftliche Druck, der auf dem absinkenden Bürgertum lastet, das von der Inflation massiv bedroht wird.
Da gibt es etwa den Kriminaloberwachtmeister Johann Huther in Landshut. Er ist verheiratet, hat drei Kinder, das jüngste zahnt gerade, was Vater und Mutter um den Schlaf bringt. Huther ist ein Mann mit geringen Bedürfnissen, es reicht für eine kleine Wohnung, die aber so eng ist, dass er es so einrichtet, dass er erst heimkommt, wenn die Kinder schlafen. Zu laut, zu eng. Er bekommt sein Feierabendbier und die Frau richtet ihm das Essen. Eine Kleinbürgerfamilie, wie sie für eine Stadt wie Landshut typisch ist. Als Ermittler ist Huther vielleicht nicht der schnellste, aber er ist sorgfältig und gewissenhaft genug, um die größten Widersprüche zu erkennen. Er verfolgt seine Spuren hartnäckig und seine Berichte sind umfassend. Was allerdings nicht jedem in den Kram passt.
Allerdings ist Huther auch in ein hierarchisches System eingebunden, das ihm wenig Bewegungsspielraum lässt, wenn einmal Entscheidungen gefallen sind, selbst wenn seine Erkenntnisse dagegen sprechen. Huther ist kein Private Eye und kein gerissener Ermittler, er ist eine Durchschnittsgestalt, die ihrem Beruf nachgeht. Er muss keine schlimme Vergangenheit aufarbeiten oder streunt als Single durchs Leben, nein, er ist absoluter Durchschnitt, dem ein Hardboiled-Krimi wahrscheinlich nur wenig anfangen könnte.
Als der Staatsanwalt im Falle Hubert Täuscher ein schnelles Resultat will, hilft die Skepsis Huthers nicht mehr. Der Verdächtige wird gefasst und abgeurteilt – erst später folgt die lakonische Aufklärung darüber, dass das Ganze ein böser Justizirrtum ist.
Hubert Täuscher ist keine sympathische Gestalt. Er macht sich an eine nicht mehr ganz junge Frau heran, die vom schnell schrumpfenden Erbe des verstorbenen Vaters lebt, und lässt sich aushalten. Täuscher ist unzufrieden mit seinem Leben, das Kino, das er sehr liebt, zeigt ihm ein anderes, an dem er allzu gern teilhaben wollte. Aber er ist schließlich doch nur der Sohn eines Einzelhändlers, der ihn nicht hochkommen lassen will. Da ist Clara Ganslmeier immerhin ein kleiner Trost. Eine gebildete Frau, die den Schmuck in Ehren hält, den der Vater in besseren Zeiten ihr gekauft hat. Die Mutter ist alt und muss gepflegt werden. Clara Ganslmeier hält sich noch, aber man weiß nicht wie lange. Ihre einzigen Assets sind ihre Haltung und ihr Schmuck. Etwas Besseres ist sie, sagen beide.
Als Mutter und Tochter eines Tages ermordet aufgefunden werden, fällt der Verdacht sofort auf den Liebhaber Hubert Täuscher. Alles spricht gegen ihn, auch wenn er vehement seine Unschuld beteuert. Aber er ist zur Tatzeit in der Nähe der Wohnung gesehen worden und er hat einen Teil des geraubten Schmucks in seinem Besitz. Außerdem flieht er nach dem Mord. Ein gefundener Täter, dessen Chancen sich aus dieser Schlinge zu ziehen, äußerst gering sind.
Allerdings gibt es einen Mittäter, zumindest jemanden, der ihm geholfen hat, den Schmuck zu versetzen. Luck Schinder ist auf Aufschneider und ein Kleinkrimineller, der jede Gelegenheit nutzt, um an Geld zu kommen. Die kleine Variante des großen Verbrechers, für den die Regeln der Gesellschaft nicht gelten. Jemand, der durch die Cafes zieht und Kurierfahrten für größere Fische macht. Jemand, der den anderen Weg aus dem Elend anzeigt, den durchs Verbrechen.
Wer von beiden der Mörder ist, steht im Zentrum von Schenkels Roman, und Schenkel lässt eigentlich keinen Zweifel, wer die beiden Frauen getötet hat. Aber als Täuscher endlich reinen Tisch machen will, ist es bereits zu spät. Man hat ihm gesagt, er solle die Klappe halten, man werde ihn nicht vergessen. Und am Ende ist er tot und sein Schinder kommt aus dem Gefängnis frei.
Andre Maria Schenkel ist 2006 bekannt geworden mit dem True-Crime-Roman „Tannöd“, und auch durch ihre Montagetechnik, mit der sie vieles im Vagen lassen konnte. In „Täuscher“ gibt sie dieses Verfahren ein Stück weit auf. „Täuscher“ ist deshalb vielleicht der konventionellste der Romane, die Schenkel bislang veröffentlicht hat. Sie erzählt bedächtiger, zusammenhängender und konkreter. Sie erzählt von einem Verbrechen, bei dem von vorneherein klar ist, wer dafür büßen wird. Und sie erzählt von einer Gesellschaft, die bereits viel verspricht, aber nicht viel davon halten kann.
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