Menschen, die aneinander lehnen in einer Landschaft
Ein rostfarbener Hirsch, der sich mintfarben in der Luft spiegelt und ein drittes Mal in Weiß, doch abgeschnitten, so dass nur der untere Teil des Körpers sichtbar ist. Das Cover zusammen mit dem Titel macht neugierig. „Das zweite Meer“ und ein gespiegelter Hirsch? Meer und Wald, Tier und Luft, Himmel und Gedoppeltes. Hier klingt schon eine Motivik an, die natürlich allzu komplex ist um auf einem Bild Platz zu finden. Doch das sanfte Cover betrachtet man gern. Freundliche Naturlyrik ist allerdings nicht zwischen den Deckeln des fein gemachten Hardcovers zu finden. In sieben Kapiteln zeichnet Andreas Altmann Bilder von einer Schönheit, die in ihrer Klarheit bisweilen fast schmerzen. Eng motivisch gearbeitet kreist der Band um Begegnung und Berührung auf allen Ebenen, das Sehen und Erkennen.
Das Ich befindet sich in einer Landschaft, die einerseits Natur ist und andererseits Elemente vergessener Zivilisation enthält. Verlassene Dinge, die nutzlos geworden sind und die Erinnerung an ihre einstige Funktion noch in sich tragen. Das Ich spürt in dieser Landschaft - eine Grenzlandschaft im doppelten Sinne - die deutliche Präsenz der Vergangenheit. Eine Förderband schaufelt nur noch Luft, eine Uhr mit stehen gebliebenem Zeiger steht im Kontrast zur Vergänglichkeit, die das Ich sehr deutlich wahrnimmt, nicht zuletzt beim Sterben eines nahen Menschen.
Überall in der Umwelt manifestiert sich die Zeit, der Tod. Er zeigt sich in den aufgeschnittenen Jahresringen der Bäume ebenso wie in einem dunklen Wartehäuschen, und wird überdeutlich in einem Bunker, einem Seil mit Schlinge, einem Wachturm: Zeugnisse der Vergangenheit, aus der die Stimmen der Opfer noch zu hören sind. Hineingewoben in Zeilen, die voller Licht, Wind und Blättergeraschel sind, finden sich motivisch Spuren des Verfalls: der gläserne Tropfen Blut, der sich von den Beeren löst, die wunden Stellen des Holzes, die Kiefern, die auf ihren Gräbern stehen. Alle Themen, die das Ich betreffen, spiegeln sich in der Landschaft wieder, durch die das Ich sehend geht, während die Bäume und Häuser menschliche Züge erhalten. Blicke, die sich spiegeln und sich begegnen, Worte, die sich gegenüberstehen, zwei Menschen, die aneinander lehnen in einer Landschaft. An der Naht findet die Begegnung statt, aber die Wunden sind darunter noch spürbar. Noch klingt das Klopfen des Spechts „wie Schüsse an der Grenze zur Nacht“. Die Vergangenheit des Grenzlandes wird hier als mitschwingende Ebene eingezogen, deutlich, aber nie aufdringlich.
Das wiederkehrende Motiv der Schnitte und Scherben löst sich erst auf, wenn in der Zweisamkeit durch die geglückte Begegnung und Berührung eine heilsame Kraft entsteht, die sogar die Scherben und Splittern lesbar macht. Was sich vorher nicht zusammen setzen ließ, erhält nun einen Sinn, wird deutbar. „Du hast mich gerettet“ heißt es im Zyklus „Paare“.
Das Gegenüber ist aber nicht nur die Natur oder eines der Tiere, die immer wieder fast beiläufig durchs Bild gehen, und ihre Spuren im Schnee und in den Texten hinterlassen, sonder auch das eigene Ich: auf Bildern, im Wasser, im Schatten, im Spiegel, in der gesamten Natur konfrontiert es den Sehenden mit der großen Frage: Wer bin ich? Wer bin ich, wenn die Zeit vergeht und ich mich in ihr verändere, wandle? So sitzt sich das Ich im Zug gegenüber oder schneidet sogar einen Spiegel auf, um zur Erkenntnis zu gelangen. Die Gedichte werden somit selbst zu einem Spiegelkabinett, in dem sich die Figur auf verschiedenen Ebenen wiederfindet, so wie der dreifarbige Hirsch auf dem Cover.
Die Farben Weiß, Schwarz und Rot spielen in dem Band eine besondere Rolle, dessen Gedichte zwar von Licht durchzogen sind, aber gleichzeitig hingetupfte dunkle Schattierungen enthalten. Das Rot des Blutes und die schwarzen Raben und Krähen kontrastieren mit dem Schnee der Landschaft, den weißen Federn, und dem weißen Schmetterling, der sich auf die Schulter des Beobachters setzt wie ein Bote aus einer anderen Welt. Das Motiv des Schattens steht wiederum der Figur des Mädchens im weißen Kleid gegenüber: ein unschuldiges Wesen das einen Kontrapunkt zum Alter bildet, sichtbar selbst in den Bäumen mit ihren grauen Haaren. Der Verlust eines dem Ich nahestehenden Menschen, von dem nur Asche übrig bleibt, färbt die Grundstimmung der späteren Gedichte ins Melancholische, die aber auch über das gesamte Buch hinweg niemals düster werden. Sie erzeugen vielmehr in einem Gleichgewicht von Dunkel und Hell eine Schwerelosigkeit und Zartheit, die selten und meisterhaft ist.
Das letzte einzeln stehende Gedicht schlägt einen „trampelpfad“ in eine ungewisse Zukunft. Beschriebene Papierschiffe sind auf dem See ausgesetzt, wo sie nun von uns gelesen werden können. „Noch“ ist der Pfad nicht sichtbar. Aber er wird sich zeigen.
Im voran gestellten Zitat von Imre Kertés heißt es, nur existenzielles Wissen, unmittelbares Wissen über uns Menschen sei nicht umsonst. Dieser Band erfüllt seine eigene Vorgabe, er enthält so viel dicht Verwobenes aus Licht und Schatten, dass er beim Leser das Bewusstsein für die eigene Vergänglichkeit ebenso schärft wie das Wissen um die Schönheit und Zerbrechlichkeit des Daseins. „sieben schwalben fliegen den luftsarg in den himmel“ ist eine solche Zeile, die gleichzeitig den Tod und seine Aufhebung enthält. Altmann ist das Unmögliche gelungen. Er hat trotz der Durchdrungenheit seiner Gedichte von Altern, Vergänglichkeit und Tod überirdisch lichte Zeilen geschrieben, die voller Schönheit der Natur sind und existenzielle Themen des Menschseins behandeln. Und die tief berühren.
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