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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Die Geschichte wandert mit

Eine poetische Einladung, das Innere Kind zu umarmen.
Hamburg

Ein Kind steht mit seinem Holzroller am Rande einer Straße. Es ist im Begriff, die Sicherheit des Trottoirs zu verlassen, vielleicht, die Kreuzung zu überqueren, oder aber, ins Ungewisse davon zu rollen. Schon kippt das Vorderrad über die Kante. Der Blick des Kindes geht zurück, direkt in die Kamera – scheu? fragend? herausfordernd? Das Bildformat ist zu klein, um seine Mimik zu deuten, doch wen es anschaut, wissen wir: Seinen Vater.

Es sind die Fotos, die ihr Vater in den fünfziger Jahren aufnahm, die Angela Krauß zu ihrem schmalen Band „Eine Wiege“ inspirierten. Mit dieser Information betraut, suchen wir unweigerlich die spätere Autorin in dem kleinen Mädchen mit dem blonden Pagenkopf. Ein Automatismus, den der erste Vierzeiler sofort relativiert:

„Ich bin ein Kind,
aber nicht dieses.
Ich bin das andere,
das mich bewohnt.“

Kindliche und erwachsene Anteile, das jetzige und das erinnerte Ich können einander in manchen Momenten wie von außen beobachten und kommentieren, sind letztendlich jedoch eins. Ob Absicht oder nicht, das psychologische Modell des „Inneren Kindes“ kommt in den Sinn.

„Eine Rede in Versen“, nennt Krauß die von ihr gewählte Textform, die sich schwerlich einer der beiden Kategorien „Lyrik“ oder „Prosa“ zuordnen lässt. Ein genresprengendes Schwellendasein, aufgegriffen in Wort und Bild. Alltägliches wird zu Existenziellem, und immer wieder mischt sich auch der Zeitgeist ein:

„Verschwinden jetzt gewisse Fragen,
ohne die bis gestern kein Tag zu überstehen war –
[…]
Auch die Strumpfnaht an den Beinen meiner Mutter
verschwand einst über Nacht.“

So wie sich das lyrische Ich im Spannungsfeld zwischen Urvertrauen und Verlorenheit bewegt, stellt sich auch die Tochter in den Augen des Vaters dar: Die Fotos inszenieren die Erkundungen eines Vorschulkindes, dessen Radius des Gewohnten sich Tag für Tag weitet. Aus einiger Entfernung oder von oben – vermutlich der elterlichen Wohnung in einem höheren Stockwerk – sehen wir das kleine Mädchen, das die Autorin einmal war, alleine oder mit seinem jüngeren Bruder auf der Straße spielen. Die kleinen Figuren wirken schutzlos inmitten der weiten, leeren Straßen, umstellt von hohen Bäumen und deren Schattenwürfen. Andererseits aber auch ganz bei sich, zentriert und unangreifbar, versunken in ihr Spiel, eine neue Erkenntnis oder eine gerade gemachte Entdeckung.

Was bewegt das Kind, das eingehend sein Spiegelbild in einer Pfütze betrachtet? Was hält es da in den Händen, vom Kameraauge abgewandt an der Erde hockend? Und wohin geht die Reise, wenn sein Lauf den Bildrand sprengt?

Dem Betrachter bleiben diese Erkenntnisse verschlossen, Krauß‘ Miniaturen jedoch eröffnen Möglichkeitsräume, die der kindlichen Erschließung neuer Horizonte entsprechen – gedanklich wie geographisch. Hinter der Linse, nicht zu vergessen, steht der Vater, der auch (nach Jacques Lacan) den Übertritt des Kindes ins Symbolische verkörpert.

„Es sei höchste Zeit, eine Ordnung zu finden
(wer sagt das? wer spricht?)
oder die Erinnerung an ihr Vorhandensein.“

Die Stimmen im Kopf des Kindes mischen sich; zwar ist seine Welt zum Großteil noch sinnliches Erleben, doch ist es längst auch Teil des Diskursiven. Große Zukunftserwartungen hängen zittrig zwischen den Zeilen, die Fantasie eines rauschenden Festes, eines feierlichen Finales. Genährt sind diese Ideen durch Märchen, Geschichten, belauschte Erwachsenengespräche, oder auch durch die in den fünfziger Jahren aufkommenden Massenmedien. Technikbegeisterung und Fortschrittsglaube, der fest auf die Zukunft gerichtete Blick werden mit leiser Ironie ins Lyrische überführt:

„… es war damals eine Zeit, da die Menschheit alles mögliche tat
aus Freude an sich selbst.
Zum Beispiel: die Geschwindigkeit zu erhöhen
oder Geräte zu erfinden zum Fühlen der Geschwindigkeit.“

Zugleich sind die Traumata der Vergangenheit keineswegs vergessen. Die Augen des Vaters, die den Freiheitsdrang und Wissensdurst seiner Kinder schützend, aber auch maßregelnd verfolgen, begreifen wir allmählich, haben selbst bereits allerhand Leid gesehen. Krauß braucht es nicht auszusprechen: ihr Jahrgang (1950) wurde von einer Generation aus Tätern und Opfern – oft beides zugleich – erzogen.

„Es scheint, die Geschichte wandert mit,
eine Weggefährtin, lange in meinem Schatten.“

Die Autorin macht daraus kein Spektakel, keine übertrieben dramatische Innenschau. Vielmehr streut sie lakonische Verweise ein auf physisch und psychisch Kriegsversehrte, Armut und Mangel, das bleierne Schweigen der Nachkriegsjahre. Erinnerungen existieren nicht in Worten, sondern in Form materieller Fragmente, die dem Kind meist rätselhaft bleiben: ein blassgelbes Kuvert, eine Taucherbrille, eine Pistole, die Knöpfe einer Uniform.

Das Grauen schleicht sich bei Krauß auf leisen Sohlen an und erwischt einen dann kalt im vorvorletzten Halbsatz. Wie etwa in dem Text, den die tagebuchartige Zeile „Im Juli 1960 wäre mein Vater einmal fast ertrunken“ einleitet. Jäh begreift das Kind, dass sein Vater, der hervorragende Schwimmer, der jeden Samstag mit vom Chlorwasser geröteten Augen vom Training kam, nicht unverwundbar ist. Er ist, im Gegenteil, verletzlich, schwach, von Kriegstraumata innerlich zerfressen. Wie nebenbei, doch beharrlich wird das Kind ein ums andere Mal mit dem Tod konfrontiert, und sei es nur mit dem seiner Schildkröte. Die einschneidende Erkenntnis, dass auch die unverwundbar geglaubten Beschützer, seine Eltern, sterblich sind, folgt auf dem Fuße.

Bis ins Jetzt hinein zieht sich die letzte Textserie, die das Älter- und Gebrechlichwerden der Mutter nachzeichnet. Hier nun spricht das erwachsene lyrische Ich – voller Liebe und Dankbarkeit, jedoch zugleich mit dem Bewusstsein, dem eigenen Sterben ein Stück näher gerückt zu sein.

Angela Krauß
Eine Wiege
Suhrkamp
2015 · 120 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42468-1

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