Aus den Köpfen Absurdistans
Zuerst dachte ich: ‚Ah, diese Sorte Lesebühnentexte - nicht Lyrik, nicht Prosa, recht munter, kurzweilig und frisch formuliert, aber immer auf den nächsten Lacher aus und nicht länger als drei Tage haltbar…‘ - Pustekuchen! Je länger ich in Anja Fingers Textsammlung „teer. notizen aus bodenhaltung“ las, umso mehr schwante mir, dass mit Bodenhaltung keineswegs ein Begriff aus der Hühnerzucht gemeint ist. Sondern eine Erzählhaltung. Und dass man diese Texte nicht nur immer wieder lesen können würde, sondern dass ihrer scheinbaren Gebrauchs-Momentanität etwas überraschend Allgemeingültiges innewohnt: Die Kunst, unser ewig unvollkommenes Dasein (und unsere ewigen Protest dagegen) mit dem liebevollen Blick aufgeklärter Träumerei als etwas skandalös Einzigartiges zu entlarven.
Frau Fingers scheinbar harmlose, traumschräge Kurzgeschichten aus dem beschwerlichen Alltag einer Phantasiebegabten machen süchtig: Je mehr man davon zu sich nimmt, umso mehr möchte man davon haben. Etliche ihrer Formulierungen und Einfälle wird man schon nach dem ersten Lesen nie wieder vergessen, sie sind so einprägsam wie selbstgeträumte Grunderkenntisse über die geheime Beschaffenheit unserer Welt. Auch wenn gut möglich ist, dass die 1972 geborene Hamburgerin Anja Finger die folgenden Anspielungen eventuell nicht nachvollziehen kann: Sie muss eine entfernte Cousine des blitzgescheiten russischen Skurrilikers Daniil Charms oder des genialen polnischen Melancholikers Galczynski sein; schon Beckett bekäme beim Lesen womöglich einen Herzinfarkt, denn Frau Fingers haarscharfe Figuren und Ideenvolten stammen ganz aus den Hamburger Schimpf- und Schanzenvierteln von heute. Ihre assoziationsreichen Kurztexte kann man eigentlich nicht wirklich Geschichten nennen, denn sie schweifen nur zu gerne ab und landen nicht selten an einem Ende, das nichts mit dem Anfang zu tun hat – und es ist großartig. Diese poetischen Nichtgeschichten sind natürlich auch keine Gedichte, denn sie haben weder Versmaß noch Metaphern; dafür berichten sie aus Schichten unserer Wirklichkeit, in die sich sonst nur wahre Dichter vorwagen. Abgesehen davon, dass uns diese kleinen Wortwunderblüten in Bruchteilen von Sekunden vom Kichern übers Gelächter zu todtraurigem Schluchzen gelangen lassen, ohne dass uns Zeit für Szenenapplaus bliebe, zum Glück finden sie immer wieder zurück zum Text. Es geht, seelisch gesehen, bis nach ganz unten und doch bleibt alles immer ganz leicht.
Erschienen ist Anja Fingers Büchlein im Verlag von herold media, einer Leipziger Agentur für Audiowerbung und Anverwandtes. Dort wurden laut Webseite bereits diverse Hörbücher produziert, insofern könnte man vermuten, dass die aus den Texten des Bandes produzierte Hör-CD vielleicht die Grundidee zur ersten Buchveröffentlichung dieses Kleinverlages war: Eingesprochen hat die Texte die wunderbare Anna Thalbach. Allerdings muss an dieser Stelle vermerkt werden, dass deren sonor-melancholische Märchenstimme dem Temperament der Fingerschen Texte leider kaum gerecht wird: In sanft plätscherndem Parlando (mitsamt dem einen oder anderen Aussprachefehler) routiniert heruntergelesen, ebnet sie all die skurrilen Bocksprünge der Fingerschen Phantasie bedauerlicher Weise zu einem fast gleichförmigen Singsang ein. Schade, denn Autorin wie Sprecherin verfügen über großartige Fähigkeiten, die in der Audio-Produktion leider weder recht erkannt noch zum Blühen gebracht wurden. Deshalb sei dem interessierten Leser dringend empfohlen, zum Büchlein zu greifen und selbst Regisseur dieser wundersamen Geschichtlein aus den absurden Doppelböden unserer rätselhaften Gegenwart zu werden.
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