Anne Carson zur rechten Zeit
Nackten antiken Marmor in zeitgemäßem Schnitt neu einzukleiden, ist von jeher eine zentrale westliche Kulturaufgabe. Aber in der jüngeren Vergangenheit hat kaum jemand die Antike so konsequent ins Zentrum der eigenen Literatur gerückt wie die kanadische Dichterin Anne Carson. Ihre Texte sind alle vollends Übersetzungen aus dem Griechischen ins Englische, nur dass sie die Boote, in denen sie rudert, eigenwillig wählt, oft löchrige, und so in unverhofft sumpfigem Schilf landet. Da es selbstverständlich keine bessere Antike gibt als die Antike im Schilf, hat sich Carson ein außerordentliches Corpus erhäkelt, luzid und ironisch und klug, das die Tradition so mühelos zeitgenössisch einbindet, dass man es gar nicht in solchen Begriffen bedenken, sondern sich nur in der Wahrnehmung seiner Eigenständigkeit zergehen lassen sollte. Mit der Hilfe also von Stesichoros und Gertrude Stein hat sie dem süßen Monstrum Geryon in Autobiography of Red Kindheitserinnerungen geschenkt, in If not, Winter setzte sie zugleich Sappho und der Sappho-Rezeption der klassischen Moderne durch einfühlsames Beharren auf dem Fragmentarischen der überlieferten Gedichte den Schlussstein ein, und ihre Übersetzungen diverser attischer Tragödien sind auch ganz gut gelungen. Inzwischen ist des Weiteren eine Fortsetzung des Geryonromans erschienen, Red Doc>, und vieles mehr; aber der bemerkenswerteste unter Carsons neueren Texten ist wohl die Antigone-Übertragung Antigonick, an der sich ihre Literatur besonders gut festmachen lässt und die kürzlich zuhanden aller als Taschenbuch aufgelegt wurde.
Kein anderes Stück hat eine gravierendere Rezeptionsgeschichte erlitten als Sophokles’ Antigone, wie Badevolk am Meer vor Mallorca liegt Antigone unzählig vor uns. Es versteht sich deshalb von selbst, dass Anne Carson dieser Versuchung nicht widerstehen wollen konnte. Ganz wie im Fall Sapphos, interessiert sie sich für die Tradierung des ursprünglichen Textes ebenso sehr wie für seinen Wortlaut. Sophokles wird auf dem Cover artig in Klammern gesetzt, da es eben nicht mehr wirklich sein Text ist, den Carson hier verhandelt. Kreon der Nazi hat vor zu vielen Augen Kreon den Thebaner längst vernebelt, als dass Carson nicht von Beginn weg den Metatext zum eigentlichen Text machte, um so den Grund für ihr eigenes Literaturprogramm zu planieren. Von Hegel über Brecht zu den gängigen postmodernen Sophisten („Theoretikern“) werden im Vorspann wie im Haupttext die menschgewordenen Fußnoten Sophokles’ dem Dramenpersonal zur Disposition überlassen. So fachsimpeln Antigone und Ismene über Beckett und übernimmt Eurydike die Weisungen der Regie in ihre eigenen. All das ist per se wenig spektakulär, aber es zeigt doch schon einmal an, dass Carson ihre literarische Aufgabe nicht nur in einer punktgenauen Übersetzung sieht, sondern auch darin, diese Übersetzung im Wirrwarr der Antigone-Rezeption adäquat zu positionieren.
In göttlicher Fügung trägt der griechischste Protagonist in Carsons Stück den amerikanischsten Namen: Nick. Nick bleibt wortlos und doch immer auf der Bühne. Seine Aufgabe ist es, die Requisiten zu vermessen, die den sprachbegabteren Akteuren zur Entfaltung ihres Dramas dienen. „Nick“ heißt er nach der Wendung „in the nick of time“, „rechtzeitig“ oder vielleicht „gerade noch rechtzeitig.“ Nur sollte man das Zeitliche an Nick nicht überschätzen. Mit „nick“ übersetzt Carson das griechische „kairos“, das allgemein das richtig Abgemessene bezeichnet. Zur rechten Zeit das Rechte im ausgeglichenen Maß in Bezug auf das richtige Gegenüber an rechter Stelle auszuüben, bedeutet, den kairos zu treffen. Die tragischen Helden Griechenlands wiederum sind deshalb tragisch, weil sie den kairos nicht treffen, „über das Ziel hinausschießen“, aus dem Gleichgewicht geraten, überzogen handeln und entsprechend in blumiger Katastrophe darnieder sinken. Die Antigone verfügt über zumindest zwei solcher tragischer Helden, Antigone und Kreon. Die eine übertreibt die Bedeutung der Familienehre, der andere insistiert übermäßig auf der Einhaltung seiner Gesetze, auf dass die Starrköpfe sich gegenseitig zu ewigem tragischem Ruhm erniedrigen. In den stummen Hintergrund dieser großen Helden pflanzt nun Carson den fleischgewordenen kairos, Nick, der mit seinem Messband den Heroen die literarische Theorie vorhält, nach der sie hampeln. Antigonick ist so ein Stück über ein Stück, nämlich über das Stück, das es selbst ist, in Endlosschleife ad infinitum.
Selbstreflexive Texte sind sehr aufregend, wenn man mit fünfzehn erstmals auf sie stößt und eine Dissertation über Proust schreibt, hat man den Zauberkünstler seine Jungfrau hingegen zum siebenunddreißigsten Mal entzwei sägen sehen, legt sich diese Aufregung etwas. Anne Carson ist sich all dessen bewusst und nutzt gerade die Plakativität der Nick-Figur, um die Konzeption ihrer Literatur zumindest halbdeutlich zu machen. Nick spielt dabei eine dreifache Rolle. Zunächst gibt es den Nick der Übersetzung. Es gilt, sowohl Wort für Wort als auch gesamttextlich akkurat zu übersetzen, denn wenn hier das Maß nicht eingehalten wird, ist der Rest von Carsons literarischem Projekt verloren. Die Verwendung von „nick“ für „kairos“ ist hier gleich das beste Beispiel einer treffenden Wort-Wort-Übersetzung, glückt Carson doch eine in ihrer Verspieltheit beinahe ideale Lösung, die den Assoziationshorizont des griechischen Ausdrucks ohne verheerende Verluste auszuleuchten vermag. Die hauptsächliche übersetzerische Leistung besteht allerdings nicht darin, ungefähre lexikalische Entsprechungen heraufzubeschwören, sondern die Sprachhaltung des gesamten Textes einzufangen. In Antigonick wählt Carson dafür eine Strategie der Entschlackung, die es ihr erlaubt, die in neuzeitlichen Sprachen schwer zu begreifende Verschachtelungsmacht griechischer Partizipien zu bändigen, ohne die ebenso typischen Punktlandungen des sprachlichen und gedanklichen Duktus aufzugeben. Es gelingt ihr so, durch getrimmte Verse wie „seven gates / and in each gate a man / and in each man a death“ die aggressive Genauigkeit des Griechischen unbelastet ins Englische zu retten.
Der zweite Nick steht, wie bereits angedeutet, im Dienst der Rezeption. Carson vermutet zu recht, dass ein offensiver Umgang mit den eingewachsenen Konnotationen des Stücks am heilsamsten ist, scheut deshalb weder den personifizierten kairos noch das Brechtzitat und überreicht uns ein Stück, das so übermäßig rezeptions- und theoriesensibel ist, dass es doch wieder sein eigenes Maß findet. Sie verortet Antigonick als vorderhand endgültige Verwurstung nicht der Antigone, sondern der Antigone-Bearbeitung, gewissermaßen als eine kanonische Anthologie der Leidensgeschichte des Dramas, wie treffend für unsere Zeit!
Der dritte Nick trifft also unsere Zeit. Anne Carson fabriziert eine Antike und Antikenrezeption für den spätpostmodernen Gelehrten, der alles im Altbekannten aufgelöst, süß aufgemischt aus Strohhalmen schlürfen möchte, im professionalisierten Ennui. Damit trifft sie uns in unserer Zeit, denn so sollte alle Literatur sein, heute, voller Bildung und voller gespielter Verachtung für die Bildung, über die wir selbstverständlich verfügen. Ihr aus der Übersetzung gewachsenes literarisches Programm stellt dadurch eine äußerst attraktive Alternative zur moralisierenden Halbschuhprosa dar, die sonst die nordamerikanischen Buchauslagen verstopft.
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