Kinds of Girls
Das eine ist das Buch „Not that kind of girl“ der 28-jährigen US-Amerikanerin Lena Dunham, Autorin, Regisseurin, Produzentin, Hauptdarstellerin und Star der Serie Girls, in der sie sich, wie das Berliner online-Magazin für Frauen aviva notiert, als „etwas trotzige Hannah mal nonchalant, mal krisengebeutelt durch ein aufregend prekäres Leben als New Yorkerin jobbt und vögelt“, wofür sie vom Time Magazine 2012 zur "Coolest Person of the Year" erkoren wurde.
Das andere stammt von der 33-jährigen Deutschen Anne Wizorek, Fachfrau für digitale Medien, Bloggerin und Initiatorin des Hashtags #aufschrei, der als erster Hashtag mit dem Grimme Online Award 2013 ausgezeichnet wurde. Und ihre – eben doch in Form des „Adelsprädikats“ Buch und nicht eines blog edierte – Summe aller klugen Gedanken dazu heißt denn auch ganz kämpferisch wie sachgerecht „Weil ein #AUFSCHREI nicht reicht. Für einen Feminismus von heute“.
Während die Amerikanerin ihre Lebensexperimente in einer Welt jenseits aller Idealvorstellungen nicht enden wollend hinausplappert, seziert die Deutsche so akribisch wie witzig die noch immer für selbstverständlich genommenen Verhaltensweisen im patriarchalisch geprägten Umfeld. Damit befindet sich Wizorek unübersehbar in den Spurrillen der Aufklärung; die Amerikanerin hingegen gilt als Ikone eines neuen Feminismus, der mit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wenig gemein habe. So jedenfalls notiert die Frankfurter Allgemeine. Dieser neue Feminismus sei begründet mit einer Forderung Dunhams: „Ich bin eine junge Frau mit dem ausgeprägten Interesse zu bekommen, was mir zusteht“. Das Mittel sei ihre sehr subjektive Kunst: „klein und handelt nur von mir“.1
Umso kontrastreicher und erschreckender, dass der Fischer-Verlag auf der Umschlagrückseite mit einem großspurigen Zitat des Frauenmagazins Grazia wirbt: „Lena Dunham ist die Stimme einer ganzen Generation – und hält zum Glück selten den Mund.“2
Dunham wählte „Not that kind of girl“ zum Buchtitel und damit exakt jene Dementi-Phrase, die nun doch genau solchen Mädchen immer wieder in den Mund gelegt wird. Ein Zitat also, und eines, das per se im oszillierenden Raum zwischen Wahrheit und lügnerischer Behauptung situiert ist. Der Untertitel, nicht minder spielerisch, rückt ihr Buch in die Nähe der memoirs: „A young woman tells you what she's 'learned'“, brav verdeutscht zu: „Was ich im Leben so gelernt habe“.
Angesichts so viel fiktiver Spielraumverschaffung kommt die Frage auf, wer hier eigentlich spricht: ein erfundenes Ich, etwa die bereits aus Filmen bekannte Kunstfigur Lena Dunham3, oder eine ihre jungen Lebenserinnerungen zu Buche bringende Autorin, eben die authentische Dunham herself? Und ist dem Erzählten zu trauen, wo so unverblümt Authentizität behauptet wird?
Erzähltes wird – so paradox das zuweilen sein mag – ja gerade dadurch glaubhaft, dass die persona dahinter hörbar wird, d. h. dass ein Mensch die Geschehnisse filtert, wertet, durch die eigene Gefühlsskala schickt. Just das ist aber bei Dunham nicht der Fall; die Amerikanerin setzt sich (und ihre Leser) schonungslos allem Erleben aus, dem banalsten wie schlimmsten. Und alles hat einen merkwürdig gefühlsleeren Touch. Damit gleich zur inzwischen wohl berühmtesten Szene des Buches, um deren Prüfung auf Wahrheitsgehalt sich US-Journalisten wochenlang bemühten:
Da wird auf einer Party eine Linie Koks gezogen, anschließend landet die Erzählerin im Bett mit jemandem, über dessen Sexvollzug die Frauenärztin Tage später noch sagt: „Es scheint rau zugegangen zu sein.“ Die Situation ist nicht kohärent geschildert, es gibt mehrere Filmrisse, nur Momentaufnahmen: ein beim Akt offenbar zerrissenes Wickelkleid; ein Kondom am falschen Ort (auf der Zimmerpalme); die Vermutung mehrerer Freunde, es habe sich um eine Vergewaltigung gehandelt; die eigene Stimme, die bei der Schilderung der Vorgänge wegbricht.
Mit der gleichen Entfremdung hakt die Autorin in ein, zwei Abschnitten darauf mehrere Liebhaber ab, schildert Essstörungen und Sex („Als wir uns küssten, wurde mir schwindelig. Ich fiel zurück, ohne zu wissen, wo ich war und was passierte. Ich wusste nur, dass ein Teil von mir gegangen und wiedergekommen war“) oder berichtet von ihren Panikattacken: „Die brutale Realität von Panikattacken ist, dass man nie weiß, wann sie kommen.“ Ähnlich geht es zu bei der Schilderung vom Tod des Chat-Freundes Igor, beim Coming-out der Schwester usw.
Psychologisch würde man schlicht von Dissoziation sprechen. Das Wort taucht auch einige Male auf, allerdings ohne dass dem nachgegangen würde. Die Hektik und unterscheidungslose Getriebenheit der Erzählerin, ihre Gefühllosigkeit gegenüber sich selbst, das Ausplappern intimster Erlebnisse, als handle es sich lediglich um die Farbe eines Pullovers, dieses fortwährende Drehen am Rad, dieses Reden in einem fort, weltbehämmert ohne Distanz zwischen Ich und Geschehen – das wirkt vielleicht im Medium Film noch einigermaßen frisch, über die gesamte Textstrecke des Buchs allerdings ermüdet es; kein tragender Boden unter den Füßen wird spürbar, nicht Greifbares, nichts Gewichtiges. Alle Diagnosen und Vorsätze scheinen merkwürdig isoliert, keine Entwicklung zeichnet sich ab. (Die Kunstfigur?) Dunham ist nicht bei sich.
Wenn Dunhams Schreiben ein radikal emanzipatorischer Akt sein soll, dann liegt dies an der zur Schau gestellten Imperfektion des erzählenden Ich und seiner Umgebung. Das Erzählte ist die ungeschminkte Darstellung einer Lebenswirklichkeit, in der weder Männer noch Frauen wissen, was sie tun. Statt Ideale zu propagieren, kolportiert Dunham das pure Leben, wie sie es erfährt: als Unordnung der Wirklichkeit. Dunham bietet ein Realitätsbild (und dies kann nur ein subjektiver Ausschnitt ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit sein, also eben kleine Kunst), das erschreckt, weil es Menschen zeigt, die völlig voluntaristisch mit sich und anderen umspringen, ohne die eigenen Grenzen oder die des jeweiligen Gegenübers zu erahnen. Eine solche Welt ist im klassischen Sinne alles andere als emanzipiert, weil sie das Grundlegende aller Emanzipation und allen Feminismus (seit er als solcher benannt wird) nicht beherzigt: ein Gefühl für sich selbst und den eigenen Wert zu entwickeln und zu bewahren.
Anne Wizoreks Publikation hat schon formal als Sachbuch einen vollkommen anderen Ansatz. Hier geht es um den Versuch, Erlebnisse zu ordnen, mithin – anders als Dunham - das soziale Gesamtfeld einzubeziehen.
Wizoreks Denkansatz nahm seinen Ausgang nicht in den feministischen Traditionen der 70erjahre. Sie habe, schreibt sie, den Feminismus aus dem Internet erlernt, per blog, Video, twitter. Entsprechend multimedial unterfüttert und stilistisch frisch kommt ihr Text daher: pointiert, witzig, schnell, etliches im checking-Verfahren, im Fließtext Kommentare wie (zwinker*), Anglizismen, für die das Deutsche noch keine Entsprechungen kennt (slut-shaming, rape culture), Webempfehlungen. Den historischen Überblick über den Feminismus gibt es als „timeline“, kein langatmiges, von Pflichterfüllung gequältes Wiederkäuen tradierter Denkparadigmata. Entsprechend stehen statt Beispielen aus früher feministischer Literatur Verweise auf zeitgemäße Pendants: An Stelle etwa von Gert Brantenbergs „Die Töchter Egalias“ – darin wurden bereits 1980 die Zuschreibungen und Attribute zu den Geschlechterrollen ad absurdum geführt, indem die Jungen im fiktiven Matriarchat genötigt wurden, PH zu tragen, die Mädchen allerdings keinen BH – fungiert hier beispielsweise Noelle Stevensons tumblr-Internet-Plattform „hawkeye“, wo Männer in sexistischen Frauenposen dargestellt werden.
Ihr Unbehagen im Patriarchat artikulierte Wizorek im Januar 2013 in einem tweet, für den sie den hashtag #aufschrei vorschlug. Über Nacht gingen Dutzende von tweets mit ähnlichen Erfahrungen ein; #aufschrei zog weite Kreise und dokumentiert nun die aktuelle Lage von Frauen im derzeitigen Gesellschaftssystem.
Alles okay für Frauen? Nein, eben nicht, trotz amtierender Bundeskanzlerin. Denn „die vorhandenen Vorstellungen davon, wie Mann und Frau zu sein haben, bestimmen unseren Alltag.“ Merkel wird noch immer gern als „Mutti“ bezeichnet und wegen ihrer Kleidung gerügt. Frauen, die ihre eigene Meinung äußern, gelten als schwierig. Eine Frau ohne Mann wird als unvollständig angesehen („hat noch nicht den Richtigen gefunden“). Ehegattensplitting zementiert die bestehende Rollenaufteilung (er arbeitet, sie koordiniert neben der Arbeit Haushalt und Kinder: den care-Sektor) und belohnt sie politisch. Die Fixierung von Erfolg auf die männlich orientierte Arbeitswelt schließt wesentliche Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus dem Erfolgsbegriff aus. Die sexualisierte, heteronormative Geschlechteraufteilung nimmt Frauen überwiegend als Körper wahr (halbnackte Modells auf Kühlerhauben) und reduziert eine weitaus komplexere menschliche Realitätsvielfalt auf lächerlich kleine Rollenmodelle. (Und dies, obwohl bereits erwiesen ist, dass faktisch bessere Selbstkenntnis bessere Beziehungen – und besseren Sex – ermöglicht!) Zwei Drittel der britischen Arbeitgeber erwarten selbstverständlich, dass Frauen im Job Make-up tragen. Aufklärungsunterricht in Schulen ist häufig noch immer nur Fortpflanzungskunde. In Stellenanzeigen tauchen noch immer gehäuft männlich besetzte Stereotype auf („offensiv, durchsetzungsfähig“), die zum Arbeitsprofil jedoch nicht passen. Und die „Pille danach“ ist in Deutschland mit Rezeptpflicht verbunden, als dürften Frauen nicht über sich selbst bestimmen, obgleich das Medikament weniger Nebenwirkungen zeitigt als eine Aspirin.
Wizorek nennt eine Vielfalt aktueller Benachteiligungen, Frauen betreffend, und resümiert deren systemische Struktur.
Was ist nun der „Feminismus von heute“, den Wizorek im Untertitel ihres Buches nennt und dagegen setzen möchte? Sie folgt der Definition der amerikanischen Aktivistin bell hooks, nach der Feminismus „eine Bewegung [ist], die Sexismus […] beenden möchte“. Sexismus ist „Bewertung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts sowie die Erwartungshaltung an andere Menschen, dass sie Geschlechternormen verkörpern“.
Diese Erwartungshaltung betrifft eindeutig nicht nur Frauen, sondern auch Männer: Die sind beispielsweise in ihrer Kleidungswahl weitaus unfreier als Frauen, Hochsensibilität wird ihnen häufig als Schwäche ausgelegt etc.
Es geht also nicht mehr um eine der zentralen Fragen, an der sich der Feminismus seit den 70ern abgearbeitet hat, nämlich danach, was eine Frau versus Mann eigentlich sei. Um diese Frage, die auch Biologen und Soziologen in den letzten Jahren noch einmal stärker beschäftigt hat, ohne dass eindeutige Antworten erzielt worden wären, schert sich Wizorek nicht. Vielmehr legt sie diesen Komplex mittels der Diagnose eines Geschlechter übergreifenden Sexismus ad acta. Keine Frontbildung Frauen gegen Männer, kein Ausspielen Männer gegen Frauen, sondern eine Geschlechter übergreifende Forderung, in der auch Männer „sich endlich als Teil der Lösung begreifen [sollten], statt direkt in die Defensive zu gehen“. Den historischen vergeblichen Versuchen, das Männliche versus das Weibliche zu definieren und sie gegeneinander abzugrenzen, solle Akzeptanz und Achtung der Verschiedenheiten entgegengestellt werden. Verschiedenheiten, die weitaus umfassender sind, als dass sie in eine nur binäre Ordnung passen könnten, und die viel individueller als bereichernd wahrgenommen werden könnten.
Deshalb kann Wizorek den Feminismus auch mit Humanismus gleichsetzen. Begrifflich will sie allerdings beim Feminismus bleiben, als einem Teilschritt zum Humanismus. So ist die Frauenquote für Wizorek nicht mehr als ein „temporärer Hack des Systems“. Diesem täte die feministische Quote als „Adrenalinspritze“ gut, um „diversity“ gegenüber behäbigen Normen zu etablieren. Es geht um mehr als ein bisschen „lasst die Frauen auch mal ran!“ Es geht um Gleichberechtigung, die ins System Struktur verändernd hineinwirkt, indem sie die Enge der binären Geschlechterordnung und ihre Zuschreibungen überschreitet.
Worum es nicht geht: Toleranz. Die nämlich, das macht Wizorek in knappen Sätzen klar, ist nicht gleichwertige Begegnung auf Augenhöhe. Unter dem Etikett der Toleranz droht alles Irritierende und Rollenerwartungen Überschreitende, als Ausnahme (ab)gewertet zu werden.
Die Rezeptur für ein anderes, integratives Miteinander allerdings bleibt ganz der alten aufklärerischen Tradition verpflichtet: mit Bewusstsein das eigene Verhalten ändern, zum Beispiel anderen Menschen genau zuhören, einschreiten, wenn ein blöder Herrenwitz gerissen wird, die Weiblichkeit einer Frau, die keine Kinder will, nicht infrage stellen, sich an aufklärenden Kampagnen beteiligen und den Stereotypen entgegenstellen.
In aller Konsequenz bewegt sich Wizorek mit solchen Thesen, allerdings sehr dosiert vorgebracht, weit über die feministischen Ansprüche der 70er- und 80erjahre hinaus.4 Nicht zuletzt, da sie die US-Schauspielerin Ellen Page zitiert mit ihrem Appell, „unser aller Schönheit gegenseitig anzuerkennen, anstatt uns für unsere Unterschiede anzugreifen“.
Und doch: Einiges wirkt zaghaft, fast, als habe die junge Autorin die Tragweite ihrer Gedanken noch nicht gänzlich ausgelotet. Sonst wäre folgender Ausreißer vermutlich nicht passiert. Wizorek spricht sich dagegen aus, Vergewaltigung als „Machtmissbrauch“, nicht als Störung anzusehen. Aber systemisch betrachtet ist diese Art des Machtmissbrauchs eine signifikante (soziale) Störung. Denn wer solcherart Machtmissbrauch betreibt, kann offenbar andere Menschen in ihrer Integrität nicht wahrnehmen. Ein bagatellisierender Umgang damit zeigt lediglich, wie tief diese Störung systemisch verortet ist.
Das Fazit bleibt, und zwar nach Lektüre beider Bücher: Es gibt definitiv noch einiges zu tun ...
- 1. Zit. nach FAZ, 04.10.2014
- 2. Was die Grazia-Rezensentin als Glück empfand, gereichte manch anderen Rezensierenden zur Qual. So notiert die Rezensentin der Frankfurter Allgemeinen: „In Lena Dunhams enthemmten Geplapper verschwindet auch das feministische Projekt.“ Heike Kunert in der Zeit: „Wenn man jetzt noch einmal darüber nachdenkt, was Dunham im Leben so gelernt hat, fällt einem nicht viel ein.“ Und Eva Behrendt meint in der taz: „Reflexion ist nicht ihre Stärke … So elegant Dunhams Filme die Brücke von der privaten Nabelschau zur kollektiven Anschlussfähigkeit schlagen, hier gelingt es ihr nur selten.“
- 3. Zu dieser These gelangte die Rezensentin der FAZ.
- 4. Mit der Idee, die binäre Geschlechterordnung zu erweitern, kommt sie etwa den Untersuchungen des Biologen Hans-Jürgen Voß nahe. Dieser weist nach, dass die gängigen Geschlechterkategorien selbst biologisch nicht so eindeutig haltbar sind, wie sie uns seit rund 200 Jahren im Zuge der bürgerlichen Ordnung suggeriert werden: „Genetisch werden beispielsweise heute etwa 1000 Gene als in die Ausbildung des Genitaltraktes involviert beschrieben - und nur die wenigsten davon zeigen sich regelmäßig auf dem X- oder dem Y-Chromosom.“
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