Friedrich Rückert – der Dichter und Orientalist
Friedrich Rückert – da denken die meisten an den „Liebesfrühling“ und die „Kindertotenlieder“ und haben die Musik von Schumann und Mahler im Ohr. Unsterblich geworden ist Rückert durch die Vertonungen seiner Gedichte und Lieder, sie haben Liebesdank und -sehnsucht, die Klage um die so früh verlorenen vielgeliebten Kleinen, das erste Töchterchen und den nachgeborenen Sohn, die er im Alter von zweieinhalb und vier Jahren verlor, zu unser aller Freude und Leid gemacht. Aber Rückert war so viel mehr als nur ein Dichter der kleinen häuslichen Welt in Spätromantik und Biedermeier. Er war ein Sprachgenie.
Sein Vater wollte, dass er Jura studierte, nach einem Jahr aber hatte er genug und stürzte sich auf Sanskrit, das Persische, Arabische, Syrische. Er hörte bei Johann Heinrich Voß griechische Metrik und bewunderte dessen Gehör – „feiner als zehn Nachteulen zusammen“. Er lernte Sprachen mit unermesslicher Gier und in rasendem Tempo. Am Ende seines Lebens waren es wohl an die fünfzig, die er fließend las, schrieb und lehrte. Sein Fleiß ist kaum mehr vorstellbar. Da er sich ein teures Sanskrit-Wörterbuch nicht leisten konnte, schrieb er es kurzerhand ab – und versah es dabei gleich mit Anmerkungen und Erklärungen. Bereits nach drei Monaten war er in der Lage, aus dem „Mahabharata“, dem bekanntesten indischen Epos, die Geschichte von „Nal und Damajanti“ zu übersetzen, eine Erzählung von treuer Gattenliebe, Trennung und endlicher Wiedervereinigung. Dabei machte er sich eine Eigenart, die das Deutsche mit dem Sanskrit teilt, zunutze, nämlich die Fähigkeit, Wörter in beliebiger Länge zusammenzusetzen. So konnte er zahlreiche Wortspiele und den charakteristischen Fluss des Ganzen in die Übertragung retten.
Rückerts große Liebe galt der orientalischen Welt, dem Arabischen und Persischen. Mit seinen Übersetzungen aus diesen Sprachen bereicherte und vertiefte er das Deutsche und schenkte ihm einen Schatz, den keine andere Sprache besitzt. Dabei half ihm „der Seele Doppelleben“, das ihn zwischen Wissenschaft und Dichtung mäandern ließ – allerdings beklagte er diese Doppelbegabung auch häufig, da sie seine Durchsetzung als Dichter erschwerte, wenn nicht verhinderte, umgekehrt aber der Dichter den Wissenschaftler in den Augen der Nur-Orientalisten diskreditierte. Rückert war nicht interessiert an trockener Philologie, ihn faszinierte, wie die Sprachen auseinander hervorgegangen waren, aufeinander abfärbten, sich verzweigten, dabei Lautverschiebungsprozesse und grammatische Änderungen durchmachten, die erkennbaren Regeln gehorchten. Aber ebenso freuten ihn die Abweichungen, das nie ganz in ein System Passende, das Lebendige der Sprachen. Gerade diese Formbarkeit, das Schöpferische der Sprache kam ihm ja in seiner Dichtung zugute: So konnte er dem Deutschen neue Wörter, Wendungen, eine neue Denkungsart schenken und der deutschen Dichtung metrische Formen und Reimschemata. Das Ghasel mit seinem einen durchgehenden Reim hat Rückert zu einer deutschen Form gemacht – mit der Erweiterung, dass er ihm in der Muttersprache das Enjambement erlaubte, welches das Persische nicht kennt.
Poesie war für Rückert die Ursprache des Menschengeschlechts, ganz im Herderschen Sinne dichtete er:
Daß ihr erkennt: Weltpoesie
Allein ist Weltversöhnung.
Er lebte in der Übergangszeit zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik, als sich aus der neugiergetriebenen, wissensdurstigen, aber durch und durch beseelten Natur- und Menschenforschung allmählich die modernen Geistes- und Naturwissenschaften herausbildeten. Er verehrte Goethe und natürlich Alexander von Humboldt, dem er es zu verdanken hatte, dass er 1841 mit sehr guten Bedingungen als Orientalist an die Berliner Universität berufen wurde, endlich erlöst vom ungeliebten Lehrstuhl in Erlangen. Aber weder dem Weltgelehrten noch dem Berliner Hof- und Theaterleben kam er näher, vielmehr vereinsamte er in den Berliner Wintern – die Sommer, in denen er keinerlei Lehrverpflichtung hatte, verbrachte er in Neuses, auf dem Gut seines Schwiegervaters, wo er sich wohl fühlte und wohin er nach seinem Abschied von der Universität 1848 zog und bis zu seinem Lebensende 1866 blieb. Der zunehmende Positivismus der Wissenschaften, der auch vor der Sprachwissenschaft nicht haltmachte, widerstrebte Rückert; Gelehrten, die sprachliche Systeme bauten und sich dann selbst als deren Schöpfer ansahen und mit ihrer Leistung brüsteten, begegnete er mit Abneigung.
Die poetisierende, ethisch fundierte, kosmopolitische Welterkundung, das Staunen vor den Phänomenen und ihre nicht nur technische, sondern geistige Durchdringung und Vermittlung war Rückerts Sache, wie es die von Herder, Novalis, Goethe, Humboldt, Chamisso und so vielen anderen Großen dieser Zeit gewesen war. Sie alle kamen von der Dichtung und Philosophie und kehrten immer wieder zu ihnen zurück, sie verbanden Naturstudium und -erklärung mit einer an den Interessen der gesamten Menschheit ausgerichteten politischen Verantwortung.
Die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel würdigt in ihrem schlanken „Lebensbild“ den Dichter und Orientalisten, umreißt dessen Lebensstationen ebenso wie seine dichterische Entwicklung und die des Philologen. Alle drei sind nicht voneinander zu trennen – denn Rückert war ein großer Liebender: er liebte die Sprachen und die Dichtung, seine Frau und seine zehn Kinder, die Natur und den ewigen Reigen des Lebens. Alles besang er in Versen. Einige von ihnen sind uns so vertraut, dass wir ihn nicht mehr als ihren Verfasser kennen. Das ist eigentlich das Wunderbarste, was einem Dichter widerfahren kann. Aber am 31. Januar, wenn Rückerts 150. Todestag begangen wird, sollte seiner gedacht werden. Vielleicht mit einigen der 70 „Amaryllis-Sonette“, die Rückert auf die spröde Schöne, die Wirtshaustochter Marie Elisabeth Geuß, in die er sich 24-jährig verliebt hatte und die auf den Kosenamen Marilies hörte, gedichtet hat. Rudolf Borchardt zählt sie zu den Höhepunkten deutscher Sonettdichtung.
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