Kritik

Kinder sind konterrevolutionär!

Hamburg

»Every adolescent has that dream every century has that dream every revolutionary has that dream, to destroy the family«, schrieb Gertrude Stein in ihrem 1940 erschienen autobiografischen Roman Paris France. Natürlich: Die Revolution muss die Familie zerstören. Denn ein gesamtgesellschaftlicher Wandel ist nur dann möglich, wenn auch die kleinste strukturelle Einheit umgewälzt wird. Glasklar.

Nicht ganz so klar: Was macht die Revolution, wenn sie selbst einmal Kinder bekommt? Die gleich wieder fressen? Unmöglich. Die Kinder fressen nämlich zuerst. Das Budget. Die Nerven. Sämtliche Haare vom Kopf. Kurz: die Ressourcen der Revolution. Kinder sind konterrevolutionär. Kinder kriegen, sogar mit Vorsatz, erst recht. Wer soll über den Nachwuchs denn noch zur Umwälzung kommen – und vor allem wie?

Genau die Frage stellt der im Ventil Verlag erschienene, von Annika Mecklenbrauck und Lukas Böckmann herausgegebene Sammelband The Mamas and the Papas. Reproduktion, Pop & widerspenstige Verhältnisse. In den Kapiteln Reproduktion, Revolution, Familie, Pop und Widerspenstigkeiten gehen verschiedene Autor_innen den Fragen nach, die sie bei Familienplanung, Lebensgestaltung mit Kindern und Erziehung der Kleinen umgetrieben haben. Bis auf ein paar theoretisch aufgeblähte Ausnahmen wie etwa Martin Dornis staubtrockener, adornitisch eingefärbter Aufsatz Erziehung zur Mündigkeit. Ein Minimalprogramm sind die Texte sehr persönlich, sogar intim gehalten.

Die gefestigte politische Agenda, wie sie sonst aus der (queer-)feministischen Blogosphäre bekannt ist, lässt sich zwar zwischen den Zeilen herauslesen, vordergründig aber plaudern hier werdende und seiende Eltern aus dem Nähkästchen. Berichten von den Vorurteilen, mit denen sie als Mutter, die sich eben nicht nur über ihre Funktion als Mutter definieren will, konfrontiert sind. Grübeln darüber nach, wie sich der Adoptionswünsch beziehungsweise der Wunsch nach einem Pflegekind mit der queeren Lebenseinstellung vereinbaren lasse oder berichten von den alltäglichen und strukturellen Problemen, die eine von den herkömmlichen binären Geschlechterzuschreibungen losgelöste Arbeitsteilung in der Erziehung des Kindes mit sich bringt. Einige Interviews wie zum Beispiel mit dem Hausprojekt in der Berliner Kastanienallee 77, in welcher Familien sich in kommunalen Strukturen konstituieren müssen, runden das nur ab.

Zusätzlich zu den lebhaften persönlichen Ansätzen einerseits und den den abschließenden Teil des Bandes dominierenden theoretischen Problematisierungsversuchen von diversen Erziehungskonzepten – wie lässt sich das eigentlich miteinander vereinbaren, ein Kind die Selbstständigkeit zu lehren? – werden auch direkt Vorschläge zur popkulturell linken Bildung mitgegeben.

Neben einer von Tanja Abou eingeleiteten Bibliografie von empfehlenswerten, nicht normativen Kinderbüchern (in die sich Gertrude Steins The World Is Round übrigens perfekt eingepasst hätte) verfolgen Daniel Borgeldt und Jonas Engelmann auch die Geschichte des (links-)politischen Kinderlieds nach. Zwischen Ton Steine Scherben und »Karl der Käfer« pochen die Beiden immer wieder auf die Moralinhaltigkeit einiger Stücke. Auch Ton Steine Scherben-Schlagzeuger Wolfgang Seidel betont im beigefügten Interview, dass die Indoktrination schnell – es steckt bereits im Wort – nationalistische Züge bekommen könne. Trotzdem, da sind sich Borgeldt und Engelmann einig: Besser, im Fahrwasser der Alt-68er aufgewachsen zu sein, als zu Zeiten der unpolitischen »Indie-Eltern«. Das liest sich nach gediegenem Hipster-Bashing und sogar etwas linkskonservativ.

Tatsächlich: Neben Musik und Büchern lassen sich kaum alternative popkulturelle Medien in The Mamas and the Papas finden. Hier und dort wird sie leicht kritisiert, zumeist aber ganz außen vorgelassen. Fernsehen, Internet? Wird überwiegend ausgeblendet und damit auch die nicht-normativen role models der Fernsehwelt. Dabei gäbe es von Sailor Moon über die Hauptfiguren der fantastischen Ghibli-Filme bis Buffy The Vampire Slayer für alle Altersklassen eine Vielzahl interessanter Figuren, die sich neben Alltagssexismus und binären Geschlechterrollen auch noch mit der Rettung der Welt herumschlagen müssen und das mit Bravur meistern. Die Poplinke jedoch klopft hier lieber auf die bewährten Mittel: Platte und Buch. Da hallt ein altes Diktum nach: The revolution will not be televised.

Kinder sind und bleiben konterrevolutionär, bringen Schwierigkeiten und kapitalistische Sachzwänge mit sich, sind »die perfekte Ausrede für Nichtaktivismus«, wie Nicole Tomasek in ihrem Aufsatz Eltern, Kinder und die radikale Linke nüchtern konstatiert. Die Konflikte, die sich für werdende und frischgebackene ((pop-)linken) Eltern ergeben, lassen sich kaum lösen. Wegen gesellschaftlich nicht auszuhebelnder Konventionen und Vorurteile, Biologismen oder einfach nur, weil sie sich mit den individuellen Bedürfnissen von Eltern nicht vereinbaren lassen. Ist also der revolutionäre Traum von der Zerstörung der Familie bereits im Kreißsaal ausgeträumt?

Nicht unbedingt. Obwohl The Mamas and the Papas kaum, wenige oder höchstens utopische Lösungsvorschläge für die Vielzahl von Dilemmata vorbringen kann, so liefert es genug Denkanstöße, die althergebrachte Konzepte von Geschlechtertrennung, elterlichen Pflichten und erzieherischen Konventionen angreifbar machen. Gerade, wenn sie anschaulich und in all ihrer Fehlerhaftigkeit mitten aus dem Leben erzählen, anstatt die kritische Theorie über Fußnoten ins Kinderzimmer einziehen zu lassen.

The Mamas and the Papas ist kein Buch, das Familien zerstören wird – vielleicht aber das überholte Bild davon, was und wie eine Familie zu sein hat. Jetzt müssen es nur noch die Richtigen lesen. Hier schreibt die Poplinke – zumindest im Optimalfall – nämlich nicht für sich selbst, sondern für diejenigen, die nicht mit den Diskursen vertraut sind und ihre eigene Verwicklung in denen nicht erkennt. Mit ihrem abwechslungsreichen Reader haben Annika Mecklenbrauck und Lukas Böckmann einen empathischen Zugang zu einem diskurslastigen Themenkomplex geschaffen. Nicht lehrhaft heruntergebetet, sondern von Mensch zu Mensch auf Augenhöhe erzählt. Gute Voraussetzungen für eine stille (R)Evolution.

Annika Mecklenbrauch (Hg.) · Lukas Böckmann (Hg.)
The Mamas and the Papas
Reproduktion, Pop & widerspenstige Verhältnisse
Ventil
2013 · 284 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-95575-009-1

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