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Kritik

Von der alten in die neue Welt oder der Liftboy als Dichter

Hamburg

Antanas Škėma ist ein litauischer Autor, der von 1910 bis 1961 lebte. Über sein Buch „Das weisse Leintuch“ kann man nicht sprechen, ohne auch in die Biografie des Schriftstellers einzutauchen, dessen Roman zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wurde. Škėma schrieb seinen Roman in den Jahren zwischen 1952 und 1954. Er wurde in Lódz geborenen, wo sein litauischer Vater als Lehrer arbeitete. Nach Beginn des ersten Weltkriegs floh die Familie zunächst nach Woronesch, weiter in die Ukraine und kehrte schließlich 1921 endlich ins inzwischen unabhängige Litauen zurück. 1929 begann Škėma sein Studium, zunächst Medizin, dann Jura, doch bereits 1944 musste die Familie wieder vor den sowjetischen Besatzern fliehen. Er fand sich in Deutschland wieder, in einem Camp für Displaced Persons. Dort schrieb er an Dramen und Kurzgeschichten. 1949 emigrierte er in die USA. Er arbeitete unter anderem wie seine Romanfigur als Liftboy. Er engagierte sich in Exilkreisen fürs Theater und schrieb Essays und auch Gedichte. Bereits 1961 starb er bei einem Autounfall.

In Škėmas Romanfigur Antanas Garšva spiegelt sich die Spaltung, die eigene und die Litauens, spiegelt sich die jahrhundertelange unruhige Geschichte eines Landes, dass erst seit relativ kurzer Zeit seine Stabilität gefunden hat. Diese Unruhe mag auch verantwortlich sein für die tief verankerten und wohl der eigenen Vergewisserung dienenden traditionellen Eigenarten. Lyrik, beispielsweise, geschrieben oder gesungen gehört als wichtiger Bestandteil dazu.

So finden sich allerlei sprachliche und geschichtliche Eigenheiten im Roman, Symbole und Verschlüsselungen, die sich allerdings anhand der hilfreichen Anmerkungen im Anhang meist erlesen und erklären lassen.

Erstaunlich frisch und modern liest sich Škėmas Roman, der 1958 unter dem Titel „Balta drobulé“ erschien. Der Autor erzählt seine Geschichte in zwei Strängen, zum einen in der Jetzt-Zeit als Liftboy in einem New Yorker Hotel, zum anderen in Rückblenden in die Kindheit und Adoleszenz in der Heimat Litauen. Einige Kapitel sind überschrieben mit „Aus den Aufzeichnungen von Antanas Garšva“ – vermutlich ist es ein Skript, das Garšva in der Geschichte seiner Geliebten Elena zu lesen überlässt, damit sie weiß, auf was sie sich mit ihm einlässt.  Beide Stränge sind jedoch nicht konsequent chronologisch gearbeitet, sie folgen vielmehr dem Gedankenstrom Garšvas. Oft scheinen surreale Elemente (wie etwa ein Auftritt bekannter verstorbener Dichter in der Personalkantine im Hotel:

„Durch die Tür kommt Rimbaud. Er taumelt, Gewehre, Säbel und Dolche in den Händen. Seinen Armen entgleitet das trunkene Schiff. Durch die Tür kommt der betrunkene Verlaine ...“

– eine ganz wundersame Szene, wie auch der groteske schwäbische Beerdigungszug mit Kapelle im strömenden Regen), schimmernde Phantasiewelten durch diese Prosa, vornehmlich dann, wenn der Fahrstuhlführer Garšva seinen mitunter langweiligen Dienst versieht.

„Up und down, up und down in einem streng eingerahmten Raum. Sisiphos, von neuen Göttern an diesen Ort versetzt. Diese Götter sind humaner. Der Stein hat die Erdanziehung verloren. Sisyphos braucht keine geäderten Muskeln mehr. Triumph von Rhythmus und Kontrapunkt. Synthese, Harmonie, up und down.“

Anspielungen an die antike Mythologie findet man nicht wenige in Škėmas Geschichte, so löst sich auch das Rätsel um den Titel „Das weisse Leintuch“ gegen Ende des Romans auf. Škėma schöpft aus einem großen Wissensschatz aus Geschichte und Philosophie, aus der baltischen Götterwelt und aus heimischem, mitunter religiösem Volksliedgut; das macht das Buch so faszinierend vielschichtig.

Einführend begleitet der Leser Antanas Garšva auf seinem Weg durch die Straßen New Yorks zur Arbeit. Wir folgen ihm in die Personalräume im Keller des Hotels und lernen seine nächsten Kollegen kennen. Und wir hören von einem Arztbesuch und einer Krankheit. Wir sehen zu, wie Garšva seine Uniform mit der aufgestickten Nummer anzieht: Die Nummer 87 geht an die Arbeit, nicht ohne einen Gedanken an Elena, die unerreichbare Geliebte.

„Elena – eine Jerusalemer Jüdin an der Klagemauer. Elena – Undine, die sich ihren abgerissenen Fischschwanz annäht. Elena – eine kniende Karyatide mit der wankenden Annenkirche auf dem Kopf. Elena – ein Baseballschläger im Gras.“

Durch Garšvas Tagesgedanken spannen sich immer wieder Erinnerungsbögen. So erfahren wir die  wichtigsten Lebensabschnitte:

Der Vater war musikalisch begabt, konnte wie der Teufel Geige spielen, doch die Eltern konnten sich den Beitrag fürs Musikkonservatorium nicht leisten, so dass er Lehrer wurde. Mit seinem Vater lebte Antanas geraume Zeit allein, da die Mutter, ebenfalls Lehrerin, an einer psychischen Erkrankung litt. Sie jagte Antanas als Kind furchtbaren Schrecken ein, wenn wieder ein Schub bevorstand. Als es nicht mehr anders ging, lies der Vater sie in die Psychiatrie einliefern.

Bereits im Alter von 21 Jahren merkt Antanas, dass er Symptome jener Krankheit zeigt, die er vermutlich von seiner Mutter geerbt hat: Schizophrene Schübe oder epileptische Anfälle oder posttraumatische Belastungsstörungen, ganz klar ist das nicht zu deuten, die ihn urplötzlich überkommen. Etwas, was auch die erste Liebe zu dem Mädchen Joné überschattet.

Kurze Zeit darauf schlägt sich Garšva als Partisan durch: Eine weitere Schlüsselszene folgt: die Tötung eines Menschen, eines jungen gleichaltrigen Manns, des Gegners im Kampf. Wir erfahren von Lektüren und ersten Schreibversuchen, wir sind dabei, wenn der Held von der Geheimpolizei bedrängt wird, seine Gedichte doch mehr nach dem gängigen kollektiven Geschmack auszurichten, zunächst noch freundlich, doch später mit roher Gewalt. Einige Monate verbringt er danach in einer psychiatrischen Klinik. Doch es will keine Ruhe einkehren in sein Leben. Allein die Flucht scheint die Rettung und so lebt Garšva längere Zeit in einem Lager für Displaced Persons in Deutschland und macht sich dann auf die Reise in die neue Welt. New York ist das Ziel. Doch als Emigrant und Dichter wird er dort nicht bejubelt, das Dichten wird zur Nebensache, da es gilt, Geld zum Überleben zu verdienen.

„Ein kleiner Gedichtband – danach sehne ich mich. Nun fange ich sogar zu beten an. Ist das ein Zeichen von Schwäche? Ich habe nicht mehr die Kraft, nach der Antwort in Büchern zu suchen. Ich habe nicht mehr die Kraft, nach der Antwort in mir zu suchen. Ich bin ein Überschussprodukt der Natur.“

Škėmas Sprache ist abwechselnd weich und poetisch, zeitweise rau und ruppig, manchmal nur beschreibend. Je nach Szene passt sie sich den Ereignissen an. Mitunter schleicht sich Ironie ein, vor allem dann, wenn Garšva während seiner Tätigkeit im Fahrstuhl über die darin beförderten Hotelgäste vor sich hin sinniert. Auch in seinen Erinnerungen spürt man die Veränderung in der Sprache. Garšvas Frauengeschichten werden in einem ganz anderen Ton erzählt, als beispielsweise das Gespräch mit dem litauischen Dichterkollegen im Camp für Displaced Persons. Sofort merkt der Leser auch, dass es mit der bereits anderweitig liierten Elena etwas ganz besonderes auf sich hat, anders als mit den vorherigen Liebschaften. So spiegelt sich auch jegliche Stimmung wieder, keine innere Befindlichkeit bleibt verborgen.

Der Biografie Škėmas entnimmt man, dass er auch der „litauische Camus“ genannt wurde, aufgrund seiner existenzialistischen Art zu schreiben. Modern und zeitgemäß, auch beeindruckend experimentell ist sie in der Tat. Wie gut, dass dieser Roman nach langer Zeit auch ins Deutsche übertragen wurde (von Claudia Sinnig) – empfehlenswert ist diese Entdeckung des Berliner Guggolz Verlag unbedingt.

Antanas Škėma
Das weiße Leintuch
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Mit einem Nachwort von Jonas Mekas
Guggolz Verlag
2017 · 225 Seiten · 21,00 Euro
ISBN:
978-3-945370-10-0

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