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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Kritik

Die vergebliche Suche nach der harmonischen Gesellschaft

Das Kursbuch ist wieder da!
Hamburg

Rund vier Jahre nach seiner Einstellung beim Zeitverlag hat das Kursbuch bei Murmann einen neuen verlegerischen Hafen gefunden. Der Zeitpunkt dafür könnte nicht besser gewählt sein: Die technokratische Komplexität der Finanz- und Wirtschaftskrise und nicht zuletzt das Jahrhundertprojekt der Energiewende – das bislang übrigens nur auf dem Papier existiert – haben gezeigt, dass von der vielbeschworenen Orientierungsfunktion der Geistes- und Sozialwissenschaften im gesellschaftlichen Diskurs derzeit nicht mehr viel zu spüren ist. Während uns Ökonomen und Finanzjongleure in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen über die (vermeintlichen) Hintergründe der Krise aufklären und ihre Lösungsvorschläge – oder besser: die ihrer Unternehmen und Institute – gleich mitliefern, beschränkte sich der Beitrag der Feuilletons zur Krisenbewältigung in den vergangenen Monaten auf die kontrovers diskutierte Frage, ob es angesichts leerer Staatskassen nicht an der Zeit sei, das System der öffentlichen Kulturförderung von Grund auf umzukrempeln. 

Und auch von Seiten der Politik wartet man bisher vergebens auf konstruktive Aussagen, wie das Fundament denn geschaffen sein muss, das ein geeintes Europa auch in Zukunft noch zusammenhalten soll. Zumal sich die (gesellschaftspolitisch nie sonderlich tragfähige) Vorstellung von der Einheit der Märkte offenkundig als Illusion herausgestellt hat, und auch das einst überzeugende sicherheitspolitische Argument von immer weniger Menschen mit Europa in Verbindung gebracht wird (man erinnere sich: Deutschland wird mittlerweile am Hindukusch verteidigt!). Davon abgesehen hat die Krise dazu geführt, dass sich die Wohlstandserwartung der Deutschen heute wieder auf den Nationalstaat beschränkt, und Europa eher als Bedrohung denn als Chance für ein (zumindest materiell) besseres Leben gesehen wird.  

Kurzum, das Umfeld erscheint wie geschaffen, für eine Zeitschrift, die, wie Chefredakteur Peter Felixberger und sein Herausgeber Armin Nassehi in ihrem Vorwort schreiben, „exakt in dem Moment an[tritt], in dem die Komplexität und Perspektivendifferenz der modernen Gesellschaft nicht mehr nur in den akademischen Hauptseminaren auffällt, sondern zum täglichen Begleiter wird, zum Vademekum des Zeitungslesers, zum Trabanten öffentlicher Debatten.“ Die Staaten- und Finanzkrise sei dabei weniger Ausgangspunkt, als vielmehr „Katalysator für neue Fragestellungen und ein neues Forum, das wie das alte Kursbuch das auf den Punkt bringen will, was an der Zeit ist.“

Das ist ein ambitioniertes Unterfangen. Doch der Auftakt ist durchaus vielversprechend, wenngleich Henning Marmullas eingangs skizzierter Rückblick auf die Geschichte des Kursbuches (1965/2012) etwas seminararbeitsmäßig wirkt. Warum eröffnet eine Zeitschrift, die mit dem Anspruch antritt, neue Perspektiven aufzeigen und Zukunftsthemen verhandeln zu wollen, ihre erste Ausgabe mit einem Exkurs in die Zeit der Bonner Republik? Fraglich ist zudem, ob es eine kluge Entscheidung war, dem Heftcover, quasi als Motto, ausgerechnet ein Zitat aus dem Editorial des ersten Kursbuches von 1965 aufzudrücken. Ein selbstbewusster Neuauftritt sieht anders aus. 

Aber zum Inhalt: Warum sollte man, wie das der Titel andeutet, „Krisen lieben“? Der Münchner Soziologe Armin Nassehi weiß darauf eine plausible Antwort: Weil Krisen der Normalfall seien, und ihnen außerdem eine ordnungsstiftende Funktion zukomme. So sei die Erzählung der Nation, immerhin das wirkmächtigste Narrativ der vergangenen zwei Jahrhunderte, überall dort in Erscheinung getreten, „wo die Gesellschaft nach der großen Revolution Ordnung und Fortschritt versöhnen musste“. Dasselbe gilt übrigens auch für den Krieg. Nassehi weist zu Recht darauf hin, dass Kriege in der Vergangenheit nicht nur Zerstörung bedeuteten, sondern auch die Generierung neuer Ordnungen. In anderen Worten: Der Krieg als jene Instanz, die „die auseinanderstrebenden Momente der Gesellschaft vereint[e]“, da er es vermochte, die zahllosen Logiken und Interessen in der Gesellschaft zu einer Art gesamtgesellschaftlichen Perspektive zusammenzubinden.

Was aber lässt sich über die gegenwärtige Krise sagen, geht man einmal (optimistisch) davon aus, dass die ordnungsstiftende Funktion des Krieges in westlichen Gesellschaften ausscheidet? Nassehi rät dazu, „der Krisenhaftigkeit der Moderne mit Gelassenheit zu begegnen“. Zumal das, was die Gesellschaft so krisenanfällig mache, letztlich ihr Potenzial sei: ihre Offenheit, ihre Vielgestaltigkeit, aber eben auch die damit verbundene Komplexität. Natürlich sei es verführerisch, dem Reiz vorgeblicher Sichtbarmachung zu erliegen, wie der Verkaufserfolg des Buches „Deutschland schafft sich ab“ zeige, in dem Thilo Sarrazin sämtliche Probleme der Gesellschaft auf eine vermeintlich kohärente Gruppe – die Zuwanderer – projiziere. Aber wir leben eben, so Nassehis lakonisches Fazit, in einer „anstrengenden Gesellschaft“, in der sich am Ende das Einfache meist als besonders anstrengend erweise.

Mit seinen Überlegungen, die zugleich das anspruchsvolle Programm des neuen Kursbuches skizzieren – „Die neue Intellektualität des neues Kursbuches wird eine Intellektualität sein, die sich auf die Perspektivendifferenz der modernen Gesellschaft einlässt“ –, legt Nassehi die Latte hoch an; nicht alle Beiträge erreichen dieses Niveau. 

So ist Werner Plumpes Überblick zur Ideengeschichte der Ökonomie fraglos informativ und die Kompetenz des Frankfurter Wirtschaftshistorikers steht ohnehin außer Frage; gleichwohl ist sein Beitrag in der Summe nicht mehr als die Kompaktversion eines (ohnehin bereits recht kompakten) C.H. Beck Wissen-Bändchens, das, dies nur am Rande, erst kürzlich aus der Feder des Autors erschienen ist.

Die Soziologin Jasmin Siri kommt zu der nicht allzu überraschenden Einsicht, dass politische Parteien die Krise brauchen, um ihre Geltungsansprüche zu formulieren bzw. Alleinstellungsmerkmale zu manifestieren. Im Grunde könne man also erst dann von einer „Krise der Parteien“ sprechen, wenn es von deren Seite keine Krisenkommunikation mehr gebe – das jedoch sei nicht zu erwarten.

Der Journalist Florian Rötzer macht sich Gedanken darüber, warum wir trotz einer immer heterogeneren Medienlandschaft einen so starken „Trend zur Konformität“ in der Berichterstattung erleben.
Der Grund sei ein sogenanntes „Karussell der Massenkonformität“, demnach in der vernetzten Welt die Aufmerksamkeit lediglich auf das gelenkt werde, was ohnehin bereits Aufmerksamkeit gefunden habe. Hinzu komme, dass immer weniger Menschen bereit seien, eine Zeitung vollumfänglich zu lesen, was die „Krise der Zeitungen“ befördere.

Der Psychologe Wolfgang Schmidbauer reflektiert über die „Krisen der Psychotherapie“ im „Zeitalter des Narzissmus“, die er zum einen institutionell begründet sieht – „Nach oder auch kurz vor dem Esoterischen und der Heilpraxis hat der kassenzugelassene Psychotherapeut seine Chance“ –, und zum anderen an der falschen Erwartungshaltung von sowohl Schulmedizin als auch Krankenkassen an die psychotherapeutische Praxis festmacht: „Dieser Entwertung möchte ich hier entgegenhalten, dass es viel Aufmerksamkeit, Geschick und Engagement erfordert, in ihrem Selbstgefühl schwer gestörte Menschen durch eine psychotherapeutische Behandlung nicht zu schaden. Wer sie stützen kann, darf stolz darauf sein, dass ihm das gelungen ist.“

Und schließlich weist der frühere IBM-Manager Gunter Dueck noch auf einen ganz besonderen Typus des Krisengewinnlers hin: den Topmanager! „Eine Krise“, so Duecks Erfahrung, „stärkt die Macht des Chefs ebenso wie der äußere Feind den Diktator“; sie vergrößere die Machtfülle des Vorstandsvorsitzenden, der nun mit Verweis auf die besondere Situation endlich nach Belieben schalten und walten dürfe. Folglich seien Krisen dem Management durchaus willkommen, da sie „Ausnahmesituationen“ zuließen, „in denen die archaischen Regeln wieder gelten“, in denen also“ – Dueck zitiert einen früheren Kollegen – „die ‚Sitten härter und ehrlicher werden‘ und im Grunde eine Kulturregression stattfinden kann.“ Trefflich verweist Dueck hier auf die zynische Seite einer sowohl bei Unternehmen als auch in der Politik verbreiteten „Die-Krise-als-Chance“-Mentalität, die für die Betroffenen nicht selten den Weg zur Arbeitsagentur bedeutet. 

Das neue Kursbuch macht deutlich: Die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Harmonie ist ebenso verständlich wie unerreichbar – sie ist nicht mehr als eine schöne Utopie! Moderne Demokratien sind eben nicht harmonisch, sie können es gar nicht sein. Vielmehr sind sie komplexe Gebilde, in denen eine Vielzahl von Akteuren wirken, deren Positionen und Interessen divergieren und nur in den seltensten Fällen deckungsgleich sind. Die Komplexitätszumutung, Nassehi weist darauf in seinem Text zu Recht hin, ist Bestandteil des demokratischen politischen Systems. Das kann man beklagen, jedoch sind die derzeit existierenden Alternativen, so viel steht fest, in keinem Fall besser. Das erfährt man momentan auch in China, wo das politisch verordnete Leitbild einer „harmonischen Gesellschaft“ zunehmend ins Wanken gerät. Wie lange angesichts rückläufiger Wachstumszahlen die Kombination aus Turbokapitalismus und gesellschaftlicher Unfreiheit dort noch funktionieren wird, werden die kommenden Jahre zeigen.    

Armin Nassehi (Hg.)
Krisen lieben
Kursbuch 170
Chefredaktion: Peter Felixberger
Murmann
2012 · 192 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-867741842

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