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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Demontieren Demonstrieren

Demokratie auf Weißrussisch
Hamburg

Das Klappenfoto von Ihar Cišyn zeigt einen Partisan mit Maschinengewehr, er liegt auf dem Rücken auf einem Holztisch in einem belarussischen "Häuschen", kurz zur Ruhe gekommen, nachdenkend? Er hat die Augen geöffnet, bald geht es weiter, aber - wie wir bald erfahren - für den Fotografen Cišyn im Ausland. Er emigrierte Ende der 90er Jahre, wie viele Intellektuelle. Andere, wie Klinaŭ, blieben im Land.

Auch dieses Buch ist im Ausland gedruckt. Der ambitionierte, junge Verlag edition.foto.TAPETA ist 2007 partnerschaftlich in Berlin und Warschau gegründet worden, veröffentlichte zunächst Foto-Text-Bücher auf Deutsch und auf Polnisch. Sein Interesse gilt der Geschichte, mit Schwerpunkt Ost.

Thema der Textsammlung "Partisan - Kultur_Macht_Belarus" von Artur Klinaŭ ist die Partisanen-Haltung weißrussischer, oppositioneller Künstler, die den Mitteln der Politik nicht mehr vertrauen; auch der Ursprung dieser Mentalität, ihr Wesen, ihr Ziel und ihre Grenzen werden philosophisch, psychologisch, historisch, sozialpolitisch und literarisch beleuchtet.

Zunächst stutze ich über den Titel der gleichnamigen Zeitschrift: pARTisan - super Wortspiel natürlich, aber waren nicht alle Partisanen längst von der pro-sowjetische Politik assimiliert worden?

Denke da an das Denkmal des Vaterländischen Krieges in Vitebsk: drei Bajonette ragen in den Himmel, stellvertretend für Partisanen, Illegale, Rote Armee. Gegen die Nazis waren sie sich einig. Aber wie ist das heute?

Das Buch gibt Antwort oder zumindest Anregung, die Situation unserer östlichen Nachbarn besser zu verstehen.

Klinaŭ meint, dass die Partisanenmentalität für Weißrussland typisch sei - der Krieg sucht dieses Land seit Jahrhunderten heim. Polen und Russland erheben Ansprüche, dann Deutschland; immer wieder werden die Einwohner massenhaft vernichtet. Es gibt nur drei Wege: wer sich nicht anpassen oder vernichten lassen will, geht in den Untergrund, auch geistig, um zu überleben oder auch ab und zu an den Rändern zuzuschlagen.

Das Buch enthält richtungsweisende Artikel aus pARTisan seit der Gründung 2002, Ausschnitte aus Roman und Erzählung, Kritiken zu Filmen und Bildern, Monografien.

Jeder Abschnitt ist eine Suche: nach sich selbst, der Stadt, dem Helden, dem Platz, Dostojewski, der Gegenwart und der Zukunft.

Es ist interessant, dass Artur Klinaŭ auch Architekt ist, denn zwei der Kapitel - "Der Partisan auf der Suche nach der Stadt" und "Der Partisan auf der Suche nach dem Platz" - betreffen dieses Thema. Die Architektur der Städte, mit ihrem sozialistischen Realismus, ihrem verkommenen Klassizismus, mit ihren Wiesen und Kühen zwischen den weit auseinanderstehenden, teils wie indianisch bemalten Hochhäusern, ist so komplett anders als bei uns und auf einem gigantischen, leeren, russischen Platz kann man Platzangst bekommen, auch wenn man das bei uns in Westeuropa bisher noch nie erlebt hat.

Städte sind wichtig für die Kultur in diesem Land, in dem die Bevölkerung größtenteils dörflich lebt, auch innerhalb der Stadt. Städte, mit einem gewissen Grad an Wohlstand, der es ermöglicht, dass die Leute Zeit haben, Zeit, um ins Theater zu gehen oder sich politisch zu bilden, zu engagieren. Das ist vielleicht der einzige Punkt, der in dem Buch etwas zu kurz kommt: die Unterschiede zur Stellung der Kunst / der Künstler / der Rezipienten im Westen. (für ausführlichere historische und aktuelle sozialpolitische Hintergründe empfehle ich: Hans Heinrich Nolte: Geschichte Russlands, Reclam 2013).

Künstler wie Klinaŭ, die nicht einfach nur alles ablehnen, neu machen, kaputtmachen, sondern verstehen, weiterentwickeln, eigenständig sein wollen, sind eine Herausforderung. Faszinierend die Idee, die Stadt Minsk, die wie viele Städte unter Stalin als Verwirklichung der sowjetischen Utopie, als Sonnenstadt gedacht war, in einem Kunstprojekt zum Museum zu erklären und darüber den eigenen Zustand zu reflektieren. Siehe auch Klinaŭs Roman "Minsk. Sonnenstadt der Träume." (Suhrkamp 2006).

Das Thema "Platz" berichtet von der Unmöglichkeit einer Demonstration auf einem solchen, der Unmöglichkeit des Entstehens eines nationalen Funken, der in Auflehnung gegen den verantwortungslosen Umgang mit der Katastrophe von Tschernobyl oder gegen die Niederdrückung eines Umzuges in Gedenken an "Kurapaty" nur natürlich wäre.

Zur Erklärung:

1. Die belarussische Bevölkerung wurde - im Gegensatz zur ukrainischen - lange Zeit im Ungewissen über das tatsächliche Ausmaß von Tschernobyl gelassen, obgleich dieses Land viel stärker betroffen war als jenes. Wichtige Hilfsmaßnahmen wurden unterlassen oder verzögert.

2. 1988 veröffentlichte der Historiker Zianon Pažniak einen Bericht, in dem er von einer Ausgrabung nahe Minsk berichtet. Dort, in Kurapaty (= Untiefe), wurde ein Massengrab von Opfern des Stalin-Terrors gefunden. Pažniaks Erkenntnisse beleben die Stalin-Debatte und die nationale Frage neu.

Demontieren, demonstrieren, Demokratie - hängt das zusammen?

Am Schluss des Buches gibt Klinaŭ eine Einschätzung mit dem Abstand und der Erfahrung von zwölf Jahren. Die Ideen haben immer noch ihre Gültigkeit, aber: der Partisan muss sich neu definieren, denn der ewige Krieg ist vorbei. Viele neue Wege sind eingeschlagen worden: die Lyrik wurde wiedergeboren, das Internet ist zu einem Forum der Gegenkultur geworden. Das Gefühl "Wir leben ja nicht hier, wir wollen nur durchhalten bis zum nächsten Morgen", wie Klinaŭ es 2009 in "Stadt der Götter" genannt hat, kann nicht das letzte Wort gewesen sein.

Innerhalb der Polarität oppositionelle vs. konforme Kunst gibt es auch noch die Polarität Gegenwartskunst - Massenkunst. Die Aufzählung der vielen Performances, im Abschnitt über die Helden zeigt, dass die Künstlergruppen aufpassen müssen nicht in der Banalität oder Wiederholung unterzugehen.

Auch muss man sich klarmachen, dass die des Weißrussischen mächtige, demokratisch denkende Zielgruppe immer noch eine Minderheit ist. Dennoch spricht aus dieser Textsammlung viel Kraft, Frische und Widerstandsgeist, ebenso Nachdenklichkeit und Potential für Weltliteratur - lag nicht Kafkas Käfer ähnlich auf dem Rücken wie der Partisan?

Artur Klinaŭ
Partisanen
Kultur_Macht_Belarus
Herausgegeben von Taciana Arcimovič sowie Steffen Beilich, Thomas Weiler und Tina Wünschmann
edition.fotoTAPETA
2014 · 168 Seiten · 12,80 Euro
ISBN:
978-3-940524-26-3

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