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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

wenn Lichtpunkte ins Ungewisse fallen

Weitwinkel nah von Barbara Zeizinger
Hamburg

[...] im Rinnstein schwimmt
eine Zigarettenschachtel
bäuchlings vorüber
barfuß laufen wäre schön

Die Gedichte von Barbara Zeizinger in Weitwinkel nah sind in ständiger Bewegung. Den gesamten Gedichtband durchzieht ein Fließen und Wehen, fast meint man, den stetigen Wind spüren zu können. Das Strömen der Sprache wird versinnbildlicht in Flüssen, Wasser, Wind oder Regen. Da Wind im Regelfall unsichtbar ist, macht Barbara Zeizinger ihn in ihren Gedichten durch windverwehte Gegenstände sichtbar. Bei diesen kann es sich z.B. um vergessene Planen im Wind, mit dem Wind fliegenden Löwenzahn, oder weiße Asche, die zum Himmel fliegt, handeln.

Weitwinkel nah von Barbara Zeizinger setzt sich aus fünf Kapiteln zusammen: „Mach’ mir auf!“, „Zeitfracht“, „Weitwinkel nah“, „Wechselnde Strömungen“ und „Das Lächeln der Katze“.  Am Beginn jedes Kapitels steht ein Haiku:

Zwischen die Zeilen
fliegt ein Marienkäfer.
Sieben Punkte mehr

Dass die Kapitel jeweils ausgerechnet mit einem Haiku beginnen ist kein Zufall, denn Barbara Zeizinger ist Mitglied in der Deutschen Haiku-Gesellschaft. Ein besonders schönes Detail am Rande ist, dass das längere Gedicht „Koordinaten“ auf der gegenüberliegenden Seite, an das sich dieses Haiku wegen seiner Rechtsbündigkeit optisch gesehen anlehnt, gänzlich auf Punkte verzichtet.

Im Ersten Kapitel „Mach’ mir auf!“ herrscht eine kaum unterdrückte Rastlosigkeit vor:

ich weiß nicht, warum ich so unruhig bin

Diese Ruhelosigkeit drückt sich auch im Beobachten vorbeifahrender Züge oder der Vögel aus:

doch mir scheint als hörte ich
die Unruhe der Vögel

Noch wird jedoch versucht, dieser Rastlosigkeit zu widerstehen:

Vogelzug
Reste im Rotweinglas
Gedankengeflatter.
Alles Spuren von gestern.
Draußen die Stare
fliegen im Aufwind
dem Süden entgegen.
Jetzt bloß nicht
die Augen schließen.
Nicht auf den Rhythmus
des Windes hören.
Einfach die Vögel
ziehen lassen.

Doch spätestens im vierten Kapitel mit dem Titel „Wechselnde Strömungen“ wird dieser Rastlosigkeit völlig nachgegeben und von einem „Sich-treiben-lassen“ von Land zu Land abgelöst. Nicht mehr das Reisen selbst, sondern das Dortsein steht in diesem Kapitel im Zentrum.

Die Gedichte von Barbara Zeizinger gehen von Beobachtungen und Erlebnissen aus, sehr oft wird ein „ich“ greifbar. Blicke, in einem Gedicht heißt es sehr treffend „epische Blicke“, und Beobachtungen sind im ganzen Gedichtband zentral:

Blicke üben sich in Flüchtigkeit kein Wurzeln im
Schattenlicht [...]
Die Beschreibung von Licht, wie dem eben zitierten „Schattenlicht“ spielt in den Gedichten eine vorrangige Rolle:
Die Tür bleibt versperrt,
nur Wolkenlicht lassen wir ein,

Die am häufigsten auftauchenden Tiere sind mit Abstand Vögel: Raben, Krähen, Stare, Tauben, Wolkenvögel, oder Nachtvögel. Vögel entsprechen sehr gut dem Drang nach Offenheit, der in den Gedichten spürbar ist. Neben Vögeln tauchen noch einmal Fledermäuse auf und ansonsten nur streunende, und damit freie, Katzen und ein Hund.

Das Nicht-zur-Ruhe-kommen lässt sich auch an den zahlreichen Ortswechseln nachvollziehen. So werden nicht nur Orte in Europa, wie Krakau, Paris, London, Frankfurt, Warschau, Bukarest, Rom, oder Venedig genannt, sondern mit San Francisco und Boston auch Städte in den USA. Leichte Ironie vermeint man zu spüren, wenn die zwei aufeinanderfolgenden Gedichte über Frankfurt und Leipzig – in welchen immerhin die zwei größten Buchmessen im deutschen Sprachraum abgehalten werden – nur die Bahnhöfe erwähnen und es beide Male nur um ein rasches Wegfahren geht. Das mit Abstand „reiselustigste“ Kapitel ist das Kapitel „Wechselnde Strömungen“. Nach je einem Gedicht zu Jerusalem, Rom und Venedig, geht es weiter nach Asien: nach Vietnam und Kambodscha. Besonders eindrücklich werden dabei einige Tempel aus Kambodscha beschrieben, z.B. der Tempel Ta Prohm – ein von riesigen Wurzeln, welche von oben über die Gemäuer zu fließen scheinen, überwucherter Tempel. Dieses genaue Benennen der Orte und das Verorten allgemeiner, scheinen ein verzweifelter Versuch zu sein, im Fließen und Strömen doch irgendwie etwas Halt zu finden.  

Bei so vielen Gedichten über fremde Länder verwundert es nicht, dass Barbara Zeizinger auch mit großer Freude Reiseberichte schreibt. Im Lebenslauf auf ihrer Homepage heißt es über ihr Schreiben: „Ihr literarischer Schwerpunkt liegt auf Lyrik und Kurzprosa, beim Schreiben ihres Kuba-Buches hat sie allerdings gemerkt, dass ihr auch Reiseberichte Spaß machen.“

Neben Reisen und fremden Kulturen ist auch Musik für und in den Gedichten von Barbara Zeizinger sehr wichtig. Ihre Gedichte zeichnen sich gerade durch eine sehr fließende und runde Sprachmelodie, ganz ohne Ecken oder Kanten, aus. Aber auch in den Gedichten selbst wird Musik thematisiert. In Gedichttiteln wie „Rondo oder Brücke der aufgehenden Sonne“ oder „Dschungeltakte“ – darin werden unter anderem tanzende Tempelmädchen in Steinreliefs beschrieben. Von Mozart wird ein „Solo für Klarinette“ erwähnt:

[...] Mozart
in der Weite des Nachmittags [...]
und in dem Gedicht „Nocturno“ klingt Chopin durch die Dunkelheit der Nacht:
Wieder liegt Chopin in der Nacht
er beunruhigt mich Ton für Ton.

Das beständige Strömen und Fließen der Gedichte ist nicht vollkommen ungebrochen. Es gibt eine Stelle, an der die Buchseiten von der Gefahr eines möglichen gänzlichen Verstummens und Erblindens überschattet zu werden scheinen: Gegen Ende des dritten Kapitels, welches das Titelgebende Gedicht „Weitwinkel nah“ enthält und auch ebendiese Kapitelüberschrift trägt, scheinen die Worte zu versiegen. So heißt ein Gedicht „Und keine Worte“, ein anderes „No more words“. Parallel zu diesem Ausbleiben der Worte werden das Sprechen, welches nicht mehr gehört und geglaubt wird, und das Erblinden thematisiert. Dieses Verstummen und Erblinden würde nicht weniger als eine Auflösung bedeuten, wie bei dem Kind, welches seine Augen versteckt: Es versteckt seine Augen wird unsichtbar
Das Kapitel endet mit dem Gedicht „Kassandra“

Kassandra

Wenn Blindheit nutzte
von Apoll erflehte ich sie.
Nicht länger vermag ich

zu sehen zu rufen schon
lange nicht mehr.
Raustimmig schicke ich

meine Worte über das Land.
Sie flügeln dahin; kraftlos,
ungläubig ich selbst.

Nach diesem starken Gedicht ist ein Weiterschreiben eigentlich fast unmöglich. Barbara Zeizinger umgeht dieses Problem, indem sie darauf das Kapitel „Wechselnde Strömungen“ folgen lässt, ein Kapitel voller losgelöster Gedichte, die von Ort zu Ort ziehen.

Tod und Vergänglichkeit werden nur ganz sachte, aber umso berührender angesprochen:

Doch bald fällt der Mond
zwischen den Gräbern ins Laub
und ich liege schlaflos
in erdachten Bildern.

Intertextualität und Verweise auf Dichterkollegen werden sehr deutlich offengelegt. Angefangen von der Abbildung auf der Titelseite, bei der es sich um ein Foto der Bibliothek von Italo Svevo in Triest handelt. Aber damit nicht genug, finden sich auch zahlreiche gekennzeichnete Zitate von Schriftsteller- und Dichterkollegen in den Gedichten: Allen Ginsberg, Pablo Neruda, Jakob van Hoddis und Zbigniew Herbert. Einigen, wie Fritz Deppert, sind Gedichte gewidmet. Andere, wie Jack Kerouac oder Rilke, werden nur namentlich erwähnt. Es ist anzunehmen, dass all diese Autoren für Barbara Zeizinger besonders wichtig sind.

Dadurch, dass Barbara Zeizinger viele Motive oder auch nur Worte immer wieder aufgreift, sind alle Gedichte sehr stark miteinander verflochten. Um dies zu verdeutlichen hier drei Zitate aus unterschiedlichen Gedichten, in denen blühende Magnolien vorkommen:

Lichtinseln fallen
in den späten Nachmittag
komm sage ich komm
die Magnolien blühen

Wenn draußen doch nicht
die Magnolien blühten.

Als sie ihn holen im zweiten Krieg blühen die
Magnolien [...]

Diese Verknüpfungen über den gesamten Gedichtband lassen sich auch sehr schön an kleinen Formulierungen oder Wortkombinationen nachverfolgen. Beispielsweise lautet der Titel des ersten Gedichts (nach dem Haiku) „Koordinaten“. Diese Koordinaten tauchen dann an späterer Stelle wieder in einem Gedicht als „wechselnde Koordinaten“ auf. In einem nächsten Schritt werden dann daraus „wechselnde Strömungen“.

Dass bei Barbara Zeizinger jedes Wort wohlüberlegt ist, sollte mittlerweile deutlich geworden sein. Doch auch auf die Interpunktion lohnt es sich, zu achten. Manche Gedichte enthalten überhaupt keine Punkte, dafür aber sehr wohl Beistriche. Andere wiederum verzichten gänzlich auf Interpunktion. Auch dass sich in einem Gedicht wie „City Lights Books“ nur ein einziger Punkt ganz am Schluss des Gedichtes findet, ist sicherlich eine ganz bewusste Entscheidung.

Die Kapitelüberschriften sind zugleich Gedichttitel im jeweiligen Kapitel. Einzig das allerletzte Kapitel, „Das Lächeln der Katze“, stellt hier eine Ausnahme dar. Diese Kapitelüberschrift hat keinen entsprechenden Gedichttitel, sondern bezieht sich auf die letzte Zeile des Gedichtes „Weitsicht“:

Eine Katze streicht durchs Feld. Sie lächelt.

Der Titel „Weitwinkel nah“ passt sehr umfassend auf den gesamten Gedichtband. Zunächst taucht einmal der Titelgebende Weitwinkel auch in einem Gedicht auf

Das Fallen der Steilküsten ins Meer
die aufgefächerte Gischt:
Mit Weitwinkel suche ich Beweise
für meine Anwesenheit
Wesentlich öfter wird jedoch Weite an sich angesprochen
Haltlose Tage
und wir ausgesetzt
der Weite des Sommers

Die Gedichte von Barbara Zeizinger sind oft öffnend und weitend

nach dem ersten Frost
wenn die Wege sich öffnen
versuche ich weite Blicke

Das „nah“ im Titel steht so klein und unauffällig leicht abseits. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen, denn Nähe und Beziehungen könnten durchaus als das versteckte Hauptthema des gesamten Gedichtbandes bezeichnet werden.

ein Strandhund sucht
meine Nähe
will ich ihn streicheln?
wir bleiben allein
mit dem Blau weit draußen

 

Barbara Zeizinger
Weitwinkel nah
POP
2013 · 75 Seiten · 12,99 Euro
ISBN:
978-3-86356-57-7

Fixpoetry 2013
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