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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Eine verspätete Liebesgeschichte

Hamburg

Ich helfe dir in die Jacke. Das habe ich nicht immer getan. Der  Mann spricht über eine Frau, er spricht sehr liebevoll mit ihr, hält mit sich selbst Monologe, erinnert sich an früher. Dein Himmel ist der meine nicht mehr. Die Zeit, in der du dich bewegst, hat nicht mehr viel mit dem Raum zu tun, in dem ich mich bewege.

Der konsequenterweise namenlose Mann war früher Journalist, er hat diesen Beruf aufgegeben, um für Sigrid, einstmals eine erfolgreiche und angesehene Juristin, zu sorgen. „Ich liebe dich“, bricht es aus mir, während ich dich sanft zu mir drehe und deine Jacke zuknöpfe. Du lächelst. Dein Lächeln wischt die Spinnwebschatten, die in letzter Zeit dein Gesicht oft verdüsterten, beiseite. „Das sind eigene Gedanken“, sagst du und ich weiß wieder nicht, worauf du dich beziehst, „und die sollen abgeschnitten werden, plump mit einer Schere. Und alles, was geschrieben steht, ist wichtiger als das, was auf zwei Beinen lebt.“ Der Mann weiß, dass eine Zustimmung Sigrid erfreut und ihn vor ihren Weinkrämpfen bewahrt.

Ganz allmählich fängt es an mit Sigrids Krankheit, nach und nach gerät der Alltag aus dem Takt. Eine Abschiebung in ein Heim kommt für den Mann nicht infrage. Lieber opfert er seine berufliche Karriere. Irgendwann die Diagnose. Der Arzt umging die Konfrontation, er schilderte dir einige Symptome, mir nannte er den hässlichen Namen. Ich wollte es nicht glauben. Du hast es erfolgreich verdrängt. Ihre Freundin Babette scheint die einzige zu sein, deren Namen sie noch nicht vergessen hat.

Lediglich eine bei der Caritas angestellte Heimhilfe lässt er zu. Unvermittelt stirbt die gemeinsame Tochter Marion. Wie soll er Sigrid erklären, dass nur mehr der Enkel Max zu Besuch kommen wird, die Tochter jedoch nicht mehr, dass Marion niemals mehr Max bringen noch ihn jemals wieder abholen wird. Wie viel bekommt Sigrid noch mit von den Ereignissen um sich? Manchmal weint Sigrid, wischt ihre Tränen mit dem Zeigefinger weg und mittendrin murmelst du: „An den Tagen des Wasserfalls hängt die Sonne im Netz.“

Der Mann sitzt an seinem Schreibtisch und tut, als würde er wieder arbeiten, wieder mal einen Zeitungsartikel verfassen. Sigrid sagt: „Hast du überhaupt schon genügend Platz zwischen den Fingern für die Grammatik? Alle zehn Finger musst du spreizen, damit die Grammatik Platz hat. Das hilft nicht, wenn du nur neun Finger hast. Sofort sind Fehler da. Und dann drehen alle den Kopf zweimal herum und finden ihn hernach nicht wieder.“ Der Mann antwortet: „Wenn ich dich nicht hätte!“ – um seine Frau bei guter Laune zu halten. „Wenn du mich nicht hättest, wärst du eine Wolke ohne Himmel.“

Eines Tages schlichtet sie die Bücher ihrer Bibliothek um, ordnet sie neu nach Farben. „Wir müssen also flüstern, damit weder der Himmel noch die Hölle belästigt werden. Oder wir reden gar nicht, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Dann ist alles ruhig. Denn wenn ich einmal anfange und mir den Käs vom Leibe rede, dann fängt der zu stinken an.“

Und eines Tages ist Sigrid mit einem Mal verschwunden, ohne Mantel und mit Hausschuhen nahm sie nicht den Weg, den der Mann immer mit ihr ging. Unterkühlt und entkräftet wurde sie gefunden und in eine Klinik eingeliefert.

Beatrix Kramlovsky erzählt diese Geschichte einer Alzheimer-Patientin mit großer Einfühlsamkeit, auf der anderen Seite der Ehemann zwischen Aufopferung und Hilflosigkeit, zwischen Erinnerungen und unverminderter Zuneigung zu Sigrid. Trotz des tragischen Themas erscheinen manche Passagen poetisch und subtil witzig. Und manch einer/eine wird sich erinnern an eigene Erfahrungen, Erlebnisse oder Erzählungen, an Fälle in der eigenen Familie oder im Bekanntenkreis. Ein beeindruckendes Buch.

Beatrix M. Kramlovsky
Der vergessene Name
Eine vergessene Liebesgeschichte
kitab
2014 · 130 Seiten · 16,00 Euro
ISBN:
978-3- 902678-26-7

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