Verschmolzen mit Menschen und ihren Worten
In der Sowjetunion hatte der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 eine entscheidende Markierung für das weitere Schicksal des Landes dargestellt. Unter dem Parteichef Nikita Chruschtschow war ein zaghafter Versuch eingeleitet worden, die schrecklichen Jahre unter Josef Stalin zu verarbeiten. Diese Entstalinisierung sorgte auch im Bereich der Künste und der Literatur unter der Bezeichnung „Tauwetter“ für eine kulturpolitische Öffnung. Junge Schriftsteller, die später auch über die Grenzen ihres Landes hinaus bekannt geworden sind, hatten jetzt Texte veröffentlichen können, die sich nicht mehr den bislang obligatorischen Agitationszwecken unterworfen haben. Jewgeni Jewtuschenko, Andrej Wosnessenski oder auch Bulat Okudschawa wollten mit ihren Poemen, Liedern und Versen dabei mithelfen, daß die einmal aufgestoßene Tür hin zu einer kulturellen Öffnung nicht wieder zurück ins Schloß fallen würde. Zu den prägenden Stimmen dieser Generation gehörte auch Bella Achmadulina(1937-2010).
Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre hatte die Lyrik in der Sowjetunion als Ausdruck einer neuen Zeit und eines vorsichtig optimistischen Aufbruchsstimmung große Popularität erfahren. Beliebt waren öffentliche Lesungen im Freien mit Zuhörerzahlen, die in die Tausende gingen. Während die Stars dieser russischen Lyriker ihre Verse in lebhafter Weise mit viel Pathos vortrugen, bevorzugte Achmadulina eine Sprache, in welcher sich die subtile Kraft emotionaler Bilder zu entfalten vermochte. Augenscheinlich wenden sich ihre Verse dem ganz normalen Leben zu, den kleinen Freuden im Alltag wie den bohrenden Sorgen, die den Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen.
In ihrem Gedicht „Das bin ich…“ stellt die Autorin ihr Licht unter den Scheffel, wenn sie schreibt: „Das bin ich – kein Genie, keine Größe, / jedem Zwilling, und Besseres nicht, / wenn der Vorortzug rattert, ich döse, / auf die Tasche sinkt grau mein Gesicht“. In diesem Gedicht wird über ein ganzes Leben, beginnend mit der Geburt, berichtet. Ob es eine Selbstbeschreibung ist, wenn von einer jungen Frau die Rede ist? Da wird die Modefarbe lila angedeutet, wird von Selbstzweifeln berichtet und darüber, daß ein „eitler Erfolg nicht beschieden“ war. Ein ganz normaler Mensch also wie Du und ich: „Fleisch vom Fleisch meiner Mitbürger, treff ich / es doch gut, sooft Schlange wir stehn / auf dem Bahnhof, in Kinos, Geschäften, / daß als letzte die Kasse ich seh - / komm noch hinter dem Jungchen, dem forschen, / und der Alten im flauschigen Tuch, / und verschmelze mit ihnen wie Worte / unsrer Sprache, nach denen ich such“.
Es wäre freilich ein Irrtum, Bella Achmadulina als eine Dichterin kleinbürgerlicher Idyllen oder wohlfeiler Selbstdarstellung zu verorteten. Gerade weil Achmadulina eine Zeitgenossin mit wacher Aufmerksamkeit war, finden sich in ihren Texten Darstellungen mit doppeltem Boden. Sie kannte die Trostlosigkeit eines realsozialistischen Alltags ebenso wie die ideologisch motivierten Bedrängungen einer gängelnden Obrigkeit. Als sie sich 1960 weigerte, eine Schmähpetition gegen Boris Pasternak zu unterschreiben, hatte sie sich im Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut in größte Schwierigkeiten gebracht. Auch in den weiteren Jahrzehnten hatte sie sich wie nur ganz wenige in ihrer Heimat für verfolgte und verfemte Schriftsteller und Intellektuelle wie etwa Lew Kopelew, Andrej Sacharow oder Georgi Wladimow eingesetzt.
Da Bella Achmadulina von den Schwächen und Unzulänglichkeiten der Menschen wußte, sind ihre Verse immer auch von etwas Skepsis und Wehmut begleitet. Im Gedicht „Nacht“ meditiert sie über das Schöne im Leben und die schiere Unmöglichkeit, Empfindungen und Eindrücke zu versprachlichen: „Wie gern würd preisen ich der Kerze Licht, / von seiner Lieblichkeit der Welt erzählen, / die schönsten Worte unermüdlich wählen / zu seinem Lobe! Doch ich kann es nicht“.
Seit Jahrzehnten hat Erich Ahrndt Prosa und Lyrik russischer Schriftsteller wie etwa Anna Achmatowa, Sergej Jessenin oder Marina Zwetajewa in das Deutsche übertragen. Sein kundiges Nachwort unterstreicht die Sorgfalt, mit welcher er die vorliegenden Gedichte und die beiden Erzählungen zusammengestellt hat. Auch insofern stellt dieser Band einen Glücksfall dar, zumal es höchste Zeit geworden ist, daß es eine greifbare Sammlung von Bella Achmadulina in deutscher Übersetzung gibt.
Als am 29. November 2010 Bella Achmadulina im Alter von 73 Jahren verstorben ist, würdigten Nachrufe in der ganzen Welt die bleibende Größe ihres literarischen Werkes. Ihre von tiefer Menschlichkeit geprägte Stimme hatte den Weg über alle Grenzen hinweg gefunden.
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