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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Gerade noch erzählbar

„Schnee kommt“ zerstört und verstört

In professionellen Katastrophen-Filmen rasen noch vor dem Anspann die beteiligten Helden in scharfem Gegenschnitt auf einander zu. Die Filmmusik tut das ihre, damit wir uns als Zuseher emotional zugespitzt auf die Katastrophe vorbereiten können. Dann sehen wir die Figuren noch einmal harmlos im Alltag herum wuseln, ehe unvermittelt das Desaster einsetzt.
Bei Bernhard Aichner fahren ein paar aufgekratzte Figuren auf einen Felbertauern ähnlichen Tunnel im Gebirge zu, Schnee kommt wie Filmmusik gedämpft und dicht. Der Mautner vor dem Tunnel hat ein Wettspiel mit sich selbst laufen, je nach Farbe des nächsten Autos gibt es Glück oder Unglück. Vor dem Tunnel verdichten sich so seltsame Figuren wie ein Mann ohne Nase, eine auf blind machende Schauspielerin, eine echte Jungfrau, die ihren Lover längst mental kastriert hat, und auch ein ehemals fetter Schnurrbart-Träger ist als Polizist dabei, weil man Polizisten immer brauchen kann.

Eingeschlossen in ihren Autokabinen reden die Figuren ziemlichen Schwachsinn, es gibt nichts zu erzählen in abgelaufenen Beziehungen, weil eigentlich alles schon einmal gesagt worden ist.
Doch dann kommt es zur Katastrophe. Jemand fährt im Tunnel gegen den Randstein, der Reifen zerplatzt, und ein paar Autos überschlagen sich und verkeilen sich in einander. Noch ehe überhaupt an Hilfe gedacht werden kann, schleudert es einen LKW vor dem Tunnelportal, er mäht das Mautnerhäuschen nieder und zerschellt, tausende Kartons mit Wein versperren die Fahrbahn.

Jetzt ist also die übliche Ordnung radikal gestört, was sonst verschlossen in den Karossen abläuft, liegt plötzlich wund und brach. Jemand ist auf Anhieb tot, der Mann ohne Nase steckt mit seinem Bein im Blech und hat eigentlich nur Sarkasmus im Sinn, er ist ohnehin im Gesicht schon geschändet und jetzt verliert er auch noch sein Bein. Allmählich beginnen die Geschockten die absurdesten Gespräche, sie reden über Abtreibungen, Fremdverhältnisse, Berufswahl, Brüste und andere aufgeilende Körperaccessoires. Endlich können sie das heraus lassen, was in den Alltagsbeziehungen so rücksichtslos eingesperrt war.

Als Höhepunkt dieser Lebensbeichten wird der Kopf eines Verunfallten von seiner Partnerin so lange gegen die Windschutzscheibe geschlagen, bis er tot ist. In Krisensituationen muss man den Ausnahmezustand nützen, um endlich jemanden los zu werden. Bernhard Aichner, als Presse-Fotograf mit Ausnahmebildern vertraut, schneidet den Stoff in grelle Puzzleteile auf.

Im Stile von Thornton Wilder, der im Roman „Die Brücke von San Luis Rey“ zufällige Opfer bei einem Brückeneinsturz sterben lässt, werden auch in „Schnee kommt“ die Opfer zufällig zusammengetrieben und offen gelegt. Diese Katastrophe kommt uns Lesern scheinbar bekannt vor und wir halten es kaum aus, wenn wir lesen, was wirklich in Menschen vorgeht, wenn die übliche Ordnung von ihnen abfällt.

Schnee kommt. - Hinter dieser lapidaren Feststellung verbergen sich die größten Lebenskatastrophen, die sich atemlos zerhackt gerade noch erzählen lassen.

Bernhard Aichner
Schnee kommt
Skarabaeus
2009 · 216 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-708232430

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