Heldenepos im Bonsai-Format
Man hört die Autorin lesen und ist von ihrer Erzählung verzaubert. Man erwirbt das Büchlein mit den eigenartigen Abbildungen auf dem Deckel – Mechanik-Modelle Lasten tragender Menschen aus einer Barockenzyklopädie – liest selbst und staunt: Sind es die sanft schlingernden Zeilen, die wie Homerische Metren an die fernen Gestade der Inseln Ithaka und Sizilien schlagen, oder die Déjà-lus, die uns die Dichterin in Form des Anklang-Teppichs beschert, auf den sie die ganze Erzählung bettet? Der Leseeindruck lässt sich am besten beschreiben als: daunig leichte fantastische Geschichte bei simultaner Dichte des Gespinsts – soll heißen zwei genuin lyrische Eigenschaften an einem als „Erzählung“ getarnten Text.
Möglicherweise trifft einen ja auch der Appell selbst am richtigen Fuß: In sanften Worten, doch umso dringlicher werden Leser/innen aufgerufen, sich für die allsinnliche Feinhörigkeit stark zu machen. Birgit Schwaner lässt uns vorstellen, was droht, sobald Eigenheit, Vielfalt und Fantasie aus der Gesellschaft ausgeschlossen sein werden – Opfer der allgemeinen, weil für manche profitablen Vereinheitlichung.
Obwohl „Polyphems Garten“ ein völlig freies fantastisches Konstrukt ist – eine Dystopie an einem hoffentlich nicht eintretenden Ort zu einer hoffentlich nie kommenden Zeit – wirkt an der Geschichte einiges vertraut: „Nennt sie Nina“ hebt der Text an, die Protagonistin mit auktorialer – nicht diktatorisch-, eher demokratischer – Erfinderin-Geste vorstellend. Wenn da ein Lesender nicht an die Eröffnung von „Moby Dick“ denkt: „Nennt mich Ishmael!“... Gelernte Postmoder-nisten fragen nun, wozu die Anrufung des Vorbilds verhilft? Vielleicht ist hier ein erhobener Zeigefinger postiert, mit der Warnung: Es ist gefährlich, sich aufs offene Meer zu wagen. Wale und einäugige Riesen lauern dort draußen.
Birgit Schwaner, gebürtige Nordhessin und längstens schon Wienerin, die vom Sachbücher-Verfassen und dem Abhalten von Schreibkursen lebt, hat für ihre Sprachkunstwerke bereits einige Preise und Stipendien errungen. Ihr jüngstes Buch ist nur das letzte einer Reihe lesenswerter anderer. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie kommen mit einem ungeheuerlichen Understatement daher und geben sich bescheiden wie graue „Mäuschen“ oder die drei unbeirrbaren, unscheinbaren, doch umso aktiveren „Spätzchen“ im Buch, die so nebenbei drei zeitlose Moiren sind und im Hintergrund die Fäden spinnen. Durch die Rolle des Hofnarren, der überall ist, nicht auffällt und kaum wahr- geschweige denn ernst genommen wird, sind sie dennoch so frei wie nur was – um mit ihrem umtriebigen Geist anzustecken: Sie spinnen, mitten im Überwachungsstaat der „Polyphem Corporation“, der die mächtigen Flüsse von Geld und Information durch hocheffiziente Drohnentechnologie schützt, ein Netzwerk der Gegenwehr und sind letztlich die (moralischen) Gewinner.
Die Autorin nennt „Polyphems Garten“ schlicht „Erzählung“, obschon es sich um ein waschechtes Heldenepos handelt – im Bonsai-Format, einer anspruchsvollen Kulturtechnik: „Horcht nur hin!“, heißt es darin. Nimmt ein Leser die Verfasserin ernst, so hört er im ans Ohr gehaltenen Klangkörper der Riesenmuschel, die „Polyphems Garten“ ist, die Sagenwelt der alten wie der neueren Literatur rauschen. Menschen mit Fantasie – das lehrt dieser Kunstgriff – nehmen selbst in der akustischen Realität des Stadtverkehrs den Ozean wahr: „Motorknattern, Hupen und Schnattern, Summen, Aufflattern“ – in astrein swingender Prosa wogt der Text dahin. Wer das Gewebe musikalisch lesen will, findet es im Geräuschteppich.
Birgit Schwaner schreibt gern für den Hörfunk und ist Radiokunst-Preisträgerin. Die Erzählerin sollte man eher Dichterin nennen. Sieht man näher hin, wodurch das behäbige Schaukeln im Text entsteht, zeigt sich, wie feinsinnig hier gesetzt und gehörcht, skandiert und betont wurde. (Übrigens geht es subtextuell auch um das Dafürhalten eines städtischen Amtsgebäudes für ein seetaugliches Riesenschiff. Man ist an die fantasiebegabten Büroangestellten der „Crimson Permanent Assurance“ aus Monty Pythons „Sinn des Lebens“ erinnert, die an den Schreibtischen ihres Bürohauses, wo sie wie Galeerensklaven schuften, Segel hissen und als Piraten gegen den Kapitalismus in See stechen.)
Tatsächlich richtet sich das Buch an eine in der Geschichte vom Aussterben bedrohte Minderheit. In einem enthaltenden Manifest heißt es: „Lesende! Wacht auf! Euer Tun ist nicht asozial, sondern würdig!“. Birgit Schwaner erfindet (kombiniert aus angelesenen Fundstücken) die letzten Mohikaner einer Gesellschaft, in der Bücher, Antiquariate und Bibliotheken von der profitablen Unterhaltungsindustrie wegrationalisiert worden sind. Stattdessen streamen die Firmen mittels Lesegeräten unters Volk, was laut Konsumentenanalyse gewünscht und verstanden wird. Lese- und Schreibfähigkeit haben unter diesen Bedingungen drastisch abgenommen. Man behilft sich mit Diktiergeräten und Vorleser(inn)en wie der Heldin Nina oder N.N., die auch anders heißen könnte, weil sie vor allem in der Tarnkappe eines Niemand agiert, um nicht vom übermächtigen Einauge „Polyphem“ erfasst und vernichtet zu werden. Denn der Diktator des beschriebenen Staates, der ein Paradies verheißt als einen Vergnügungspark, worin es Gedichtgeneratoren in Form künstlicher Papageien und ferngesteuerte Springbrunnen geben soll, nennt sich wie der Widersacher des listenreichen Odysseus: Polyphem.
In seinem Land ist die Beziehung zwischen den „Wenigen“, die über die „Meisten“ regieren, indem sie die Massen mit Unterhaltung zerstreuen, durch eine Mauer zementiert. Die Untertanen, die auf der einen Seite leben, werden mit vogelkleinen luftschwebenden Beobachtungshubschraubern überwacht: Orwells Big Brother is watching you! Weil das „schon immer“ so war, bleibt die Gesellschaft zweigeteilt, zumal gilt: „Wer nicht suchen will, vertraut Gelerntem.“ Müßig zu ergänzen, dass Menschen ohne Bücher zu den Nicht-suchen-Wollenden gehören und auf „Gelerntes“, d.h. die Parolen, die ihnen aufgesagt, d.h. mittels „Streamys“ in Ohr und Hirn getrichtert werden, eingeschworen sind.
Allerdings wäre die Story kein Thriller, gäbe es nicht auch „Meneteklisten“: Das sind die Lesefähigen, die Zeichen entziffern oder sich einen Reim auf Zustände machen; hat man ihnen die Bücher weggenommen, lesen sie die Zeichen der Zeit, wenn es sein muss, auf ihrer trostlosen Wandseite der „Mauer“. Abseits vom Zentrum, unten am Fluss, existiert ein ganzes Lager von solchen Widerständlern, darunter die seit der Lese-Abschaffung arbeitslose Nina. Nina ist eine der „Bradburianer“, benannt nach Ray Bradburys Dystopie „Fahrenheit 451“. Aus Truffauts Verfilmung mit Oskar Werner kennt man die Figur des Feuermanns „Montag“, der die Profession eines Bücherverbrenners ausübt, bis er – aus Liebe – Seiten wechselt und unter den „Buchmenschen“ landet. Die haben die Weltliteratur mittels ihres Gedächtnisses gerettet: Jeder weiß ein anderes Buch auswendig und murmelt es, auf- und abschreitend, vor sich her.
Indem die Autorin sich all dieser aus Film und Literatur bekannten Stoffe und Bilder bedient, führt sie gleich vor, quod erat demonstrandum, wie viel Freude die Auseinandersetzung mit und das Schöpfen aus einem gemeinsamen Leseschatz macht: Das aus „Fahrenheit 451“ oder „Brazil“ übernommene Muster des Konvertiten aus Liebe muss nicht neu erfunden noch ausgemalt werden, Schwaner traut die Ausgestaltung dem Leser zu: Man stelle sich eine rasterhafte Stadt wie in Terry Gilliams Film „Brazil“ vor, worin die Buchpersonen der besseren Überwachbarkeit halber leben. Ninas Wohnungsnachbar – übrigens auch ihr lettristischer Namensnachbar – war einst Ingenieur Ping, der über einen geliebten Anderen auf den Geschmack von Kunst und Natur anstelle von Künstlichkeit und Technik kommt. (Nicht nur, dass Schwaner das Verhältnis zwischen „N.N.“ und „Ping“ nicht weiter ausführt: Bereits die Protagonisten zu wählen wird der Leser hier ermächtigt.) Es geht des Weiteren um Verschwinden und Finden Geliebter, die Entdeckung eines Labyrinths in Polyphems Garten und eine darunter versteckte – Bibliothek! Müßig zu bemerken, dass das Büchlein umso spannender wird, je mehr andere Bücher einem dazu einfallen. Die vergrabene Geheimbibliothek bildet gewissermaßen des Gegenstück zum verbotenen Bibliotheksturm in Umberto Ecos „Der Name der Rose“ und dessen wissbegierige Klostergesellschaft zu einer, die sich mit Plapperkolibris und nach dem Mund geredetem Springbrunnengemurmel abspeisen lässt.
Stilistisch wirkt die Geschichte erfrischend einfach gesetzt wie die Prosa von Henri-Pierre Roché, der von sich sagt, er hätte endlos lang gestrichen und gefeilt, um für „Jules et Jim“ die gewünschte Leichtfüßigkeit zu erreichen. Wie macht das Birgit Schwaner? Reduktive Entschlackung ist etwa dort sichtbar, wo sie für die metrische Volatilität Schmelzpräpositionen einsetzt und Pronomen weglässt: wennst, fürn, ne Mauer, der’s, winzge. Mit synkopierendem Effekt stellt sie Epitheta nach, bis die Zeilen zart und elegisch swingen. Auch der Nominalstil indiziert den flüssig epischen, polymetrischen Duktus: Im Kampf gegen den polyphemischen Duce wird die Sprache selbst Aufruhr! Durchs Weglassen von Verben verliert man die aussagelosen Silben (Hilfverb, partizipiale Prä- und Suffixe) am Satzende – als befände man sich ein einem experimentellen Sprachspiel-Roman von Georges Perec oder Ilse Kilic. „Spuren von Ping? Fehlanzeige, er bleibt verschwunden <...> Nina ergo: Suchkraft voraus!“
Im zweiten Teil wird weiter ausgeholt, bis zu Großvater Knopf, dem Ahn der nunmehr 36-jährigen Heldin „N.“, dem die Ingenieurin „Tante Oda“ einen Spielzeug-Spatzen konstruiert hat. Vögel gehören zum typischen Schwaner-Repertoire, auch in ihren anderen Texten. Dass Technokraten und Profiteure eben die natürlich singenden und fliegenden Wesen nachbauen, gilt ihr als abscheulichster Frevel. Die Charakterisierung Ninas erfolgt durch ihre spätere zweite Hälfte, Ping, blonder Universal-Konstrukteur „mit zerfurchtem Gesicht“. Als Außenstehender beschreibt er – wie Alice B. Toklas Gertrude Stein – seine Partnerin, die der Spezies eines Lese-und-Schreibe-Menschen angehört. Die Passage sei allen Literaturgetreuen wärmstens ans Herz gelegt, sie enthält Wendungen wie: „Ninas Umgang mit Worten, und der Worte Umgang in ihr.“ „Als trage sie, wo Worte im Spiel, eine 3D-Brille. <...> Und damit: allzu drastischer Input.“ Eine wie Schwaners „N.N./Nina“ aufmerksam „Suchende“, „Lesende“ hat Ossip Mandelstam ein „gespanntes Segel“ im Ansturm von Wörtern, Worten und Zitaten genannt. Schwaner spricht in sehr poetischen Zeilen von einem „Knäuel“ aus Klang-Assoziationen und Bedeutungsmöglichkeiten, und der Sehnsucht, zu entwirren, zu ordnen und neu zu verwirken, was sie als (roten) Ariadne-Faden bezeichnet.
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