„Mit beiden Beinen fest im Nebel.“
Birte Lanius hat mit „Comic Sans Relief“ einen Band vorgelegt, der eine Auswahl ihrer zwischen 2012 und 2015 auf Twitter und Ello veröffentlichten Texte versammelt.
Lanius betritt den Raum, als alle anderen schon im Halbschlaf sind und fängt an, von Welt- und Existenzmüdigkeit, Melancholie und Albträumen zu erzählen. Ihr Humor ist dabei so fein und ihr Blick trotz allem so liebevoll, dass sich im Verlauf des Vortrags mehr und mehr Zuhörer um sie sammeln. Ich habe @nichtschubsen, wie Birte Lanius bei Twitter heißt, Ende 2013 zum ersten Mal gelesen und bin seitdem chronisch begeistert von ihren Texten, Betrachtungen, Übungen.
Es kündigte sich schon lange an, allerdings erst im Nachhinein.
Die „Übungen“ waren das erste, was mich besonders fesselte. Lanius stellt Aufgaben zum Leben als Mensch unter Menschen und führt dabei oft tatsächliche therapeutische Übungen und Fragebögen ad absurdum. Das liest sich dann beispielsweise so:
Kontaktübung: Gehen Sie auf einen Menschen zu.
Weichen Sie erst in letzter Sekunde aus.
Reflektieren Sie das soeben Erlebte in Kleingruppen.
oder
Introspektion: Können Sie sich beim Ausmalen an die Begrenzungen der Wohnung halten?
oder
Wie sehr stimmen Sie auf einer Skala von eins bis fünf folgenden Aussagen zu?
a) Stimme gar nicht zu.
b) Stimme ein bisschen zu.
c) Stimme vollkommen zu.
Sie erteilt außerdem Ratschläge wie:
In einer Beziehung sollten beide ihren Rückzugsraum haben.
Hierfür eignen sich z. B. alte Bananenkisten, die auch benagt werden können.
oder
Viktorianischer Flirttipp:
Rennen Sie im Regen mit ungeeignetem Schuhwerk davon.
Erkranken Sie im Verlauf übertrieben.
Diese durch Twitter auf 140 Zeichen beschränkten Kürzesttexte gehören zu den besten, die man derzeit im deutschsprachigen Twitterbereich finden kann. Sie aufgrund der Ursprungs-Plattform nicht als Literatur zu verstehen, wäre falsch. Birte Lanius bewegt sich oft in Randbereichen – kurz vor dem Surrealen, kurz vor den Albträumen, kurz vor der völligen Verzweiflung und kurz, bevor alles aufhört. Das zeigt sich auch in den längeren, Ello entnommenen Texten, die den Schlußteil des Buchs ausmachen.
Wenn sie Situationen und Gefühle beschreibt, dann so eindrücklich (und lustig), dass bei den LeserInnen sofort Bilder entstehen:
Auf ein Akkordeon zeigen und sich geduldig nach der Funktion jedes einzelnen Knopfes erkundigen.
und
Du hast dich in mein Herz propellert wie die Schiffsschraube eines Außenbordmotors in den Rücken einer träumenden Seekuh.
sind nur zwei davon und sie funktionieren auch als Kürzestgeschichten.
Lanius schlüpft oft in die Haut von Insekten, überhaupt in die Haut von anderen Tieren als die des menschlichen Tiers. Sie hat, abseits der Tiere, großes Mitgefühl für Pflanzen und Dinge. Den Stein aus der Artussage zum Beispiel, aus dem endlich das Schwert gezogen wurde. Sie findet dafür eine Sprache, die eigen ist, auf unangestrengte Weise mit der durch Twitter vorgegebenen Zeichenverknappung spielt und und immer wieder ins Lyrische überschwappt. Was dabei unaufhörlich durchschimmert, ist viel Humor. Das funktioniert sogar in Ultrakürzesttexten wie:
Himmel (s. o.)
Das bei Frohmann erschienene Buch ist als eBook erhältlich, und zwar ausschließlich. Wer keinen eBook-Reader hat, muss nicht verzweifeln. Es gibt eine Reihe von (kostenlosen) eReader-Apps für Smartphones und Rechner.
Wenn alles gesagt sein wird (ich hoffe, das dauert noch lang), wird Birte Lanius den Raum wahrscheinlich so verlassen wie sie ihn betreten hat. Ohne viel Aufhebens um sich zu machen. Und mit guten Worten.
Die Letzte löscht die Lupinen.
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