Gedichtband mit Zeitmaschine und Wittgenstein
Eigentlich wollte ich überhaupt nicht mit dem ersten Gedicht, das auch auf dem Buchrücken steht, anfangen. Aber jetzt tue ich es doch, weil es den Titel Risse gut erklärt.
Das Gedicht handelt von der Frage, was für den Menschen auf Erden möglich ist und ob die Gegenwart überhaupt verstehbar ist, geistig und sinnlich. Es ist zugleich sprachkritisch als auch philosophisch, es ist rhythmisch und gelungen, weil es mir die Ahnung einer Wahrheit vermittelt, ohne dass ich sogleich durchschaue, warum und wodurch.
So wie jetzt heißt es, weil es Jetzt nicht heißen kann.
Ein wenig Moos und Nähe gibt es
wenn es sie gibt
Ich überlege kurz, in welchem Sinne Moos gemeint sein könnte: als Pflanze oder als umgangssprachliches Synonym für Geld. Oder etwa: als beides, aber das fände ich an dieser Stelle unsinnig, weil ich noch nicht mal auf dem Boden des Gedichts angekommen bin.
Vielleicht gibt die nächste Zeile Aufschluss:
wenn der Schwung der Himmel nicht zu groß ist
wenn sich das Ich“ nicht befreit für das Licht
für sein Gespenst.
Glück gehabt. Schwung der Himmel: Plötzlich befinde ich mich in einem erhabenen Modus, in Hab-Acht- Stellung, aber nicht in Panik.
Schlimm genug, dass es zwei Himmel gibt. Bedeutet Licht hier: im klassischen Sinne Erkenntnis? Erkenntnis ist immer gnadenlos, weil es kein Zurück mehr gibt (ohne das totale Vergessen).
... auch Erkenntnis kann Tod bringen; umgekehrt: der Tod bringt immer Erkenntnis.
Gefährlich also, kein Wunder, wenn das Wort Gespenst auftaucht, was etymologisch von Verlockung und Verführung kommt.
Frage mich nur: warum für, warum nicht durch, aber natürlich würde durch das ganze zeitlich völlig umdrehen. Das Ergebnis bleibt also offen, eine Gespanntheit, die ebenfalls in Gespenst steckt.
Wenn drinnen im Wesen
so vieler Wesen
wenn drinnen am langen Gestade
die Moosblüte sich öffnet
für jemanden sehr Kleinen.
Der Text behauptet hier, dass alle Wesen ein Wesen haben und es wird mit dem Satzbau und dem altertümlichen Wort Gestaden eine starke Verzögerung hergestellt, die sich bei Moosblüte nur scheinbar entspannt, denn es gibt sie nicht, die Moosblüte, Moos blüht nicht, hat nur simple Sporenträger, aber in der Sprache ist das Wort möglich und in einem Gedicht und in der Fantasie erst recht. Und wenn der Leser bisher noch in der ersten Person dachte, spätestens jetzt ist er hinauskatapultiert in die dritte Person oder als Betrachter derselben in kosmologische Dimensionen, was die Empfindung für das große Unverständliche noch steigert.
Ich bleibe aber noch am langen Gestade hängen. Warum nicht an langem Gestade oder gar: an langen Gestaden? Offenbar ist ein bestimmtes Ufer gemeint und offenbar auch nur eine Uferseite.
An dieser Stelle wird es schwer oder fast unmöglich, nicht auf Hölderlin oder Heidegger einzugehen. Dass Tomaševićs sich mit beiden viel beschäftigt hat, zeigen seine literaturtheoretischen Schriften. Auch Titel für Lyrikbände wie Landschaft mit Wittgenstein und andere Ruinen, der sich mir eingeprägt hat und der scheinbar typisch für Tomaševićs Werk ist. Er beschäftigte sich nicht nur viel mit Literatur sondern auch mit Sprachphilosophie und den Autoren, denen er da folgte, ist gemeinsam, dass sie keine endgültigen Antworten fanden und früher oder später auch ihre eigenen Schriften auseinanderpflückten.
Parallel zur Technik-Abgewandheit Heideggers finden wir in den Gedichten von Bošco Tomaševićs wenig technische Begriffe. Aber verortet sind sie dennoch im Alltag, Murmansk im November. Züge fahren. Jemand steht am Fenster.
Zufällig, oder nicht zufällig, hatte ich mit meinem Mann, angeregt durch Risse und ein Tutorial von Daniel Scholten über den Ursprung der Sprache, eine Diskussion, was die erste Sprache gewesen sein könnte, was die ersten Wörter: ich, du... , vielleicht in ähnlicher Reihenfolge wie beim Spracherwerb des Kindes, doch wozu bezeichnen, was da ist, was man sieht, auf was man verweisen kann - viel wichtiger muss es gewesen sein, auf das zu zeigen, was in der Zukunft (Plan) liegt oder in der Vergangenheit (Erfahrungen). Wir lagen im Dunkeln und versuchten uns das vorzustellen... Und wer bestimmt die Bezeichnungen?
Ferdinand de Saussure hat von der Arbitrarität der Zeichen gesprochen - eine zufällige Zuordnung, die im Laufe der Zeit natürlich verloren geht. Zeit, überhaupt ein Thema bei Bošco Tomašević. Kein Gedicht, was die zeitliche Dimension nicht hervorhebt. Und wenn es, wie hier im ersten Gedicht, über die Aufstellung einer Bedingung (wenn) passiert. So entstehen die Risse durch die Zeit, durch den Schwung der Himmel. Hier wird, glaube ich, schon klar, dass die Lektüre des Gedichtbandes keine schnelle, erst recht keine ganzheitliche sein kann.
Karl Bühler mit seinem Organon-Modell hatte die Sprache als Werkzeug der Kommunikation verstanden: einer teilt dem anderen mittels der Sprache etwas über die Dinge mit.
Doch über die Dinge ist nicht das, was Heidegger charakterisiert. (Wortlaut Hanna Arendt: Heidegger würde nicht über die Dinge denken, sondern die Dinge selbst.) Wenn die Sprache bei Heidegger ein Haus des Seins ist, dann sind Gedichte Tomaševićs Flugmaschinen, oder besser noch: Zeitmaschine, denn eine Vergeblichkeit wohnt den Texten inne, ein Wissen um die Unmöglichkeit bei gleichzeitiger Verteidigung der Sehnsucht.
Bošco Tomaševićs Texte durchschreiten Weltsichten mit Siebenmeilenstiefeln (wie im Gedicht Der erste Schritt eines möglichen zweiten Schritts), lassen es außer Frage, dass es einen Gott gibt (in der Unmöglichkeit der Verneinung des Gegenteils: ein Ort, wo man nicht ohne Zweifel weiß ob Gott gestorben ist) und rücken das Denken in die Nähe der Improvisation. - Schnitt - Es ist der 19.5.2015. Gegen Abend werden wir plötzlich per Megaphon aufgefordert werden, unsere Wohnung zu verlassen. Die wesentlichen Dinge (Kuscheltiere, Festplatten...) nehmen wir mit. Dann schauen wir mit Tausenden auf einen leeren Platz im für die Evakuierten bestimmten Stadion. Ein Rausfall aus der Zeit, ein Übergossen werden mit Zeit, ein Zurückkommen ist kaum möglich. Auch keine Vergewisserung, ob das Leben wirklich uns gehört - ein Erlebnis eigentlich, wie es in Risse ständig vorkommt, bloß ohne äußeren Anlass.
Übersetzt sind die Texte aus dem Serbischen von Helmut Weinberger. Da es im Serbischen acht (!) verschiedene Zeitformen gibt und außerdem ein Aspekte-System wie im Russischen, war es, bei einem solchen Themenschwerpunkt, sicherlich eine besondere Herausforderung.
Für Leser, die sich nicht besonders für philosophische Fragestellungen interessieren, kann die Lektüre von Risse natürlich zu einem recht unverdaulichen Bissen werden, aber Biss wird man ihnen nicht absprechen können.
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