Das Buch einer Geliebten
Paul Celan, einer der prägenden Lyriker in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, hat nicht nur mit seinen dunklen Werken die Deuter auf den Plan gerufen, auch sein Leben, das im April 1970 durch Freitod in der Seine endete, ist von manch einem Geheimnis umwittert. Nachdem in jüngerer Zeit durch entsprechende Veröffentlichungen klarer geworden ist, unter welchen seelischen Belastungen der Dichter litt, fügt die neue Publikation „Celans Kreidestern“ von Brigitta Eisenreich den bisherigen Erkenntnissen einige Mosaiksteine hinzu. Die Beziehung der Verfasserin zu dem Lyriker war der Forschung bisher entgangen, und würde man nur die im Anhang des Bandes mitgeteilten Dokumente betrachten, darunter zwei sehr knappe Briefe Celans an die Verfasserin und einen an ihren Bruder, den österreichischen Schriftsteller Herbert Eisenreich (1925-1986), dann wäre davon nicht viel Aufhebens zu machen, denn sie hätten auch irgendwo in einem Aufsatz untergebracht werden können, mussten nicht notwendigerweise zwischen zwei Buchdeckel geraten.
Anders sieht es aus mit der Beschreibung ihres Verhältnisses zu dem Dichter, an der sich Brigitta Eisenreich im Hauptteil ihres Buches versucht. Die seit November 1951 in Paris als Au-pair-Mädchen und Studentin lebende Österreicherin war im Sommer des folgenden Jahres durch ihren Bruder mit Celan bekannt geworden. Beide Autoren hatten im Mai 1952 an jener wichtigen Tagung der „Gruppe 47“ in Niendorf an der Ostsee teilgenommen, von der das Signal ausging, dass nunmehr die so genannte „Kahlschlagliteratur“ der unmittelbaren Nachkriegszeit beendet sei und eine neue Phase der Entwicklung begonnen habe. Ingeborg Bachmann war mit dem Preis der Gruppe geehrt wurde, während Celan, der selbst mit der Auszeichnung geliebäugelt hatte, leer ausging. Schlimmer noch war, dass er unter den versammelten Kollegen, die zumeist Kriegsteilnehmer gewesen waren, gegen ihn gerichtete Ressentiments zu spüren glaubte, die ihm sogar in eine antisemitische Richtung zu deuten schienen.
Der Dichter war also mit einer erheblichen Enttäuschung als Autor und einer Verstimmung gegenüber Ingeborg Bachmann, mit der ihn eine intensive Liebesbeziehung verbunden hatte, aus Deutschland zurückgekehrt, als er im Juni in Paris auf die acht Jahre jüngere Brigitta Eisenreich traf. Er war zu diesem Zeitpunkt mit der Malerin Gisele de Lestrange liiert, die aus dem französischen Adel stammte und die er dann im Dezember heiratete, ohne dass die Verbindung mit Ingeborg Bachmann schon ganz beendet gewesen wäre. In diese Konstellation fügte sich nun die neue Beziehung zu einer jungen Frau ein, für die Celan eine „starke physische Anziehung“ empfand, wie Brigitta Eisenreich es formuliert, ohne in Details zu gehen. Die dem Band beigegebenen Fotos bezeugen ihre Attraktivität, und alle Indizien sprechen dafür, dass der Dichter im Zusammensein mit ihr Entlastung von seinen anderen Beziehungsproblemen fand.
Das neue intime Verhältnis musste aber verheimlicht werden vor aller Welt und vor allem vor der eigenen Frau. Sie brachte im Oktober 1953 Celans ersten Sohn zur Welt, der die schwere Geburt nur um wenige Stunden überlebte. In dieser schwierigen Zeit unternahm der Dichter nach Darstellung der Verfasserin einsame Wanderungen durch die Stadt und steuerte dabei „gewissermaßen als Trost- und Haltestelle am Weg“, wie es an der entsprechenden Stelle heißt, die Wohnung seiner heimlichen Geliebten an. Es war aber nicht nur die physische Anziehung, die bei diesen Besuchen eine Rolle spielte, sondern Celan konnte mit der jungen Frau nicht zuletzt auch in der Sprache kommunizieren, in der er schrieb, in der deutschen Sprache seiner Mutter, während er sonst in Paris gewöhnlich Französisch sprach. Auch war Brigitta Eisenreich, ein weiterer Anziehungspunkt für ihn, stark an Literatur interessiert, ließ sich in die lyrische Welt Celans bereitwillig hineinziehen und unterstützte ihn später sogar bei seinen Übersetzungen russischer Gedichte, etwa denen Ossip Mandelstamms, weil sie über entsprechende Sprachkenntnisse verfügte.
Für ihre Beziehung, die anfangs wohl ganz unbeschwert und von der Verschwiegenheit Brigitta Eisenreichs abgesichert war, entwickelten die Liebenden eine Art Signalsprache. Wenn die im siebten Stock eines Wohnhauses lebende junge Frau. ein weißes Tuch als Fahne an ihrem Fenster befestigt hatte, war Celan ihrer Anwesenheit sicher, im ungekehrten Fall – ein Telefon gab es nicht -, konnte er sich den mühsamen Aufstieg zu ihr ersparen. Als sie später umzog, befestigte sie eine kleine Schiefertafel mit einem Stück Kreide an ihrer Wohnungstür, und wenn der Dichter sie nicht angetroffen hatte, zeichnete er einen kleinen Stern auf die Tafel – von daher rührt der Titel des Buches. „Stern“ ist bekanntlich eines der Schlüsselworte in Celans Lyrik und also von ihm nicht zufällig gewählt als Zeichen für die Geliebte. Mit Sternchen kennzeichnete er auch seine Gedichtbände, die er ihr schenkte, eine Namenssignatur erschien ihm wohl als zu verfänglich.
Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. Bald nach der Geburt seines ehelichen Sohnes Eric im Juni 1955 wurde auch die heimliche Geliebte Celans schwanger und unterzog sich in Berlin einer Abtreibung, für die der Dichter das benötigte Geld aufbrachte. Das war eine Zeit, als Claire Golls Versuche, Paul Celan als Plagiator ihres Mannes Yvan Goll hinzustellen, hier und da Gehör fanden und eine schwere seelische Krise bei dem von dieser unberechtigten Beschuldigung Betroffenen auslösten. Von daher datiert seine tiefe Verstörung, die in einen regelrechten Verfolgungswahn mündete und Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken erforderte. Auch die Beziehung zu seiner Geliebten blieb davon nicht unberührt, und die einmal so sehr von dem Dichter faszinierte Frau musste erleben, wie sich seine Persönlichkeit unter der Wirkung der schweren psychischen Erkrankung veränderte, wie aus dem einfühlsamen und sanften Mann ein rücksichtsloser wurde. 1962 endete die Beziehung, und die später als Anthropologin hervorgetretene Brigitta Eisenreich heiratete im folgenden Jahr einen Österreicher, nahm das weitere Geschick Celans bis zu seinem Tode nur noch aus der Ferne wahr.
Fragt man sich, was diese neue Publikation über die Darstellung einer bisher unbekannten Liebesgeschichte hinaus als Ertrag für die Forschung bringt, so sind das in erster Linie Hinweise, die Brigitta Eisenreich für die Entstehung bestimmter Celan-Gedichte gibt. Zumindest einige Stellen müssen künftig wohl ereignisnäher gelesen werden, haben konkrete Erlebnishintergründe, die die Verfasserin benennt, und werden so aus dem Nebulösen ins Handfestere hinübergeholt. Die häufiger geäußerte und auch mit Beispielen schon belegte These, dass die so geheimnisvoll erscheinende Lyrik Paul Celans durchaus klare Anlässe und bestimmbare Ausgangspunkte hat, findet somit weitere Bestätigung.
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