Lyrische Erkundung der Gegend
Nach „Finnisch Singen“ (1989) und „Italienische Blätter“ (1999) ist der Gedichtband „Nördlich von Rom“ bereits das dritte Buch, das von Charlotte Ueckert in Zusammenarbeit mit dem Buchkünstler, Fotografen und Verleger Klaus Raasch entstanden ist.
Nördlich von Rom hat Charlotte Ueckert sowohl ihre zweite Heimat als auch Inspiration für ihr lyrisches Schaffen gefunden. Sie setzt sich mit den Menschen auseinander, die dort leben und mit jenen, die dorthin gelangt sind. „Als Kind fuhr ich in die Berge / zur Erholung / aber richtig froh war ich wenn / die Ebene sich bis vors Zugfenster erstreckte / wie kann man nur / in den Alpen wohnen / dachte das Nordkind // Jetzt breitet der Apennin / seine Flügel / über die weite Lebensreise / über die fremde Lebensweise.“ Sie ist eine Beobachterin, die wahrnimmt und kritisch reflektiert. „Viel zu leicht / ist es an die Wiedergeburt / zu glauben wir sind viele / Auswärtige hier / Nachfahren der Barbaren…“
Sarkastisch und mit einem leichten Augenzwinkern belässt sie Dinge in der Schwebe, bietet ihrer Leserschaft weiten Raum für Beurteilungen und Empfindungen. „Gedichte schreiben ist mir die wichtigste Form, mich zu äußern. Meine Gedichte sind Bilder, oft gegenstandsbezogen. Und ich lasse offen, ob es Beobachtungen sind oder Metaphern für psychische Vorgänge“, äußert sich die Autorin. Indem sie in verschiedene Rollen schlüpft, treibt sie ein Vexierspiel mit der Wahrnehmung, interpretiert Philemon und Baucis neu, stellt Verbindungen mit der Gegenwart her.
Die andererseits unweigerlich vorhanden ist, wenn ein Bus niemals vor dem einzigen Haus auf dem Berg hält, „dessen Bewohner niemals / weg müssen oder wollen / allein / der Anschluß an die Welt wird so geliebt / und daß eine wie ich / von weit alles sieht.“
Es sind Gedichte, die sich scheinbar zurücknehmen, nicht auf den Tisch hauen, sondern sich erst nach und nach ausbreiten, Widersprüche von Hoffen und Wollen behutsam erkunden, dafür dann umso schneller einsickern, bis sich das Aroma voll entfalten kann wie von einem wunderbaren Wein.
Wenn Gott eine Dichterin wie Charlotte Ueckert wäre, ließe ich mich bekehren, schreibt sie doch ein Gedicht wie dieses:
WENN ICH GOTT WÄRE
dann eine überdimensionale Weltkuh
die zärtlich über Wiesen leckt
die weichen Blätter des Frühlings im Maul
Ich leckte ganze Täler leer
saugte an Bächlein und Quellen
und liebkoste mit meinen Zähnen
die Bergkuppen und die kleinen zarten
Schäflein schmeckten mir besonders gut
aber vielleicht hüllte ich sie nur
beschützend ein in meinen Speichel
Wenn ich Gott wäre
umarmte ich mit den Lippen Land
Haus und alle darin
Die Fotos von Klaus Raasch verstärken die Stimmung der Gedichte. Es sind, wie in dem Buch angemerkt, Motive in der Toskana, die vor 20 Jahren mit einer analogen Kleinbildkamera aufgenommen, für dieses Buch mit dem Computer bearbeitet wurden. Der ockerfarbene Hintergrund, der über die Fotos gelegt wurde, erscheint wie eine Lasur. Zypressen und Hausfassaden, Landschaftsausblicke, wie Gemälde aus der Renaissance, bloß ein paar Details bringen die Gegenwart zurück ins Bild. Genau wie Charlotte Ueckert bedient sich Klaus Raasch des Vexierspiels: Durch einen Filter wird die Realität infrage gestellt beziehungsweise neu definiert. „In der Windsprache Experte werden“, betitelt Charlotte Ueckert ein Gedicht – und zwei arbeiten in ihrer jeweiligen Sprache, jeder für sich, um schlussendlich zu einem kongruenten Ergebnis zu gelangen.
Zum Abschluss sei mein Lieblingsgedicht aus dieser Sammlung zitiert, ein großartiges Bild, eine Metapher, als würde sich Darwin zu Wort melden:
AUF DEM DACH
ein notdürftig verstecktes Ei
Täublein grau wie Blei
Mütterchen stopft dich
bis du schaffst zu flattern
auf dem Dach zu spazieren
doch soviel Mütterchen lockt
du fliegst nicht
Alle anderen
setzen sich neben dich
fliegen hoch auf Kommando
du fliegst nicht
Hockst auf dem Dach
Hungrig
Eines Tages läßt du dich
einfach vom Rand fallen
sollten die Flügel sich öffnen
eine Weile dich tragen
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